Als Hauptmann Sidney Reilly im Herbst 1924 mit seiner Frau an Bord der „Nieuw Amsterdam“ in New York eintraf, wurde er auf dem Kai von einem weißgardistischen Begrüßungskomitee empfangen. Der „Held des antibolschewistischen Kreuzzuges“ wurde mit Blumen, Sekt und schwungvollen Ansprachen gefeiert.
Reilly fühlte sich in den Vereinigten Staaten bald heimisch. Um jene Zeit wurde viel über die Möglichkeit einer amerikanischen Finanzhilfe für Sowjetrußland gesprochen. Eine Anzahl prominenter amerikanischer Geschäftsleute nahm eine wohlwollende Haltung ein. Die Sowjetregierung war an der Aufnahme freundschaftlicher Beziehungen mit Amerika im höchsten Maße interessiert; außerdem brauchte sie dringend Kapital und Maschinen für den Wiederaufbau der zerrütteten russischen Wirtschaft und war daher zu Konzessionen bereit.
„Sowjetrußland hatte die besten Aussichten, eine Anleihe zu erhalten“, berichtete Mrs. Reilly später. „Sidney war fest entschlossen, das Zustandekommen dieser Anleihe zu verhindern. Seine Tätigkeit in Amerika war nicht zuletzt auf die Erreichung dieses Zieles gerichtet.“
Reilly stürzte sich sofort in den Kampf. Er eröffnete am unteren Broadway ein Privatbüro, das in kürzester Zeit zum Treffpunkt aller antisowjetischen und weißgardistischen Verschwörer Amerikas wurde. Diese Zentralstelle versandte riesige Mengen von Propagandaliteratur an die einflußreichsten Verleger, Journalisten, Pädagogen, Politiker und Geschäftsleute Amerikas. Reilly unternahm eine Vortragstournee, um das Publikum über die „Bedrohung der Zivilisation und des Welthandels durch die bolschewistische Gefahr“ aufzuklären. In verschiedenen amerikanischen Städten hielt er im kleinen Kreis vertrauliche Besprechungen mit Vertretern der Wall Street und reichen Industriellen ab.
„Sidney bekämpfte die bolschewistische Anleihe durch öffentliche Vorträge und Zeitungsartikel“, schreibt Mrs. Reilly. „Überflüssig zu erwähnen, daß die ununterbrochene Folge von Enthüllungen und Aufdeckungen zu einem vollständigen Sieg führte. Die Anleihe an Sowjetrußland kam nie zustande.“[34]
Aber Reilly verfolgte in Amerika noch ein anderes, wichtigeres Ziel. Er betrachtete es als seine Hauptaufgabe, eine amerikanische Zweigstelle der Internationalen Antibolschewistischen Liga zu errichten, die seine antisowjetischen Umtriebe in Europa und Rußland wirksam unterstützen sollte. In Berlin, London, Paris und Rom sowie in den Staaten des Cordon sanitaire am Balkan und im Baltikum bestanden bereits solche Filialen. Die Japaner finanzierten eine Zweigstelle in der mandschurischen Stadt Charbin, deren Leitung dem berüchtigten Kosakenataman und Terroristen Semjonow übertragen wurde. In den vereinigten Staaten gab es noch keine derartige Organisation, aber das vorhandene Material berechtigte zu den schönsten Hoffnungen…
Reilly wurde von seinen weißgardistischen Freunden mit einflußreichen, vermögenden Amerikanern in Verbindung gebracht, von denen große Beträge für die Finanzierung einer antisowjetischen Bewegung zu erwarten waren.
In diesem Jahr schrieb Reilly in einem vertraulichen Brief an einen seiner europäischen Agenten: „Die Geldfrage ist nirgends so leicht zu lösen wie hier, aber um das Geld zu bekommen, muß man einen sehr konkreten und einleuchtenden Plan vorlegen und überzeugend nachweisen können, daß die Minorität in absehbarer Zeit imstande sein wird, eine Neuorganisierung des Geschäfts vorzunehmen.“
Die „Minorität“, auf die Reilly in diesem in einer Geheimsprache abgefaßten Schreiben anspielte, war die antisowjetische Bewegung in Rußland. Mit „Neuorganisierung des Geschäfts“ meinte er den Sturz der Sowjetregierung. Reilly fuhr fort:
„Auf dieser Grundlage könnte man in erster Linie mit dem größten Automobilfabrikanten Amerikas verhandeln, der sich vermutlich für die Patente interessieren würde, wenn man ihm stichhaltige Beweise (nicht bloße Worte) für die Brauchbarkeit der Patente erbringt. Wenn er einmal für die Sache gewonnen ist, bedeutet die Geldfrage keine Schwierigkeit mehr.“
Aus Mrs. Reillys Memoiren geht hervor, daß Henry Ford gemeint war.
Der Führer der sowjetfeindlichen weißgardistischen Bewegung in Nordamerika war ein Offizier der alten zaristischen Armee und ehemaliger Agent der Ochrana, Leutnant Boris Brasul. Eine Zeitlang hatte er als Untersuchungsrichter am Obersten Gerichtshof von St. Petersburg gearbeitet. Er nahm 1916 als Vertreter Rußlands an der Interalliierten Konferenz in New York teil und blieb von da an in der Eigenschaft eines zaristischen Spezialagenten in Amerika.
Brasul war ein kleiner, blasser, nervöser, feminin aussehender Mann mit fliehender Stirn, großer Nase und dunklen, brütenden Augen. Er betrieb schon seit langem mit besonderem Eifer antisemitische Hetzpropaganda und hatte bereits 1913 in dem berühmten Beilis-Prozeß eine führende Rolle gespielt. Damals behauptete die zaristische Geheimpolizei, die Juden von Kiew hätten einen Ritualmord an einem christlichen Knaben begangen.
Nach der Revolution rief Brasul die erste weißgardistische Verschwörerorganisation von. Nordamerika ins Leben. Sie erhielt den Namen „Verband der zaristischen Armee- und Marineoffiziere“ und bestand in erster Linie aus ehemaligen Mitgliedern der Schwarzen Hundertschaften. Im Jahr 1918 arbeitete Brasuls Gruppe bereits für das Staatsdepartement und lieferte einen großen Teil der falschen Angaben und Informationen, auf Grund deren das Staatsdepartement die betrügerischen „Sisson-Dokumente“ für echt erklärte.[35] Brasul verstand es, sich in den Ruf eines Fachmanns für russische Fragen zu bringen, was ihm eine Stelle beim amerikanischen Spionagedienst eintrug. Er begann seine Tätigkeit als Agent „Bl“ damit, daß er Natalie de Bogory, die Tochter eines ehemaligen zaristischen Generals, veranlaßte, die „Protokolle der Weisen von Zion“ ins Englische zu übersetzen, jene infame antisemitische Fälschung, mit deren Hilfe die zaristische Geheimpolizei im kaiserlichen Rußland ausgedehnte Judenpogrome hervorgerufen hatte und die der zaristische Emigrant Alfred Rosenberg später in München verbreitete. Brasul ließ die Übersetzung als authentisches Dokument, das zur „Erklärung der russischen Revolution“ beitragen könne, den Akten des amerikanischen Geheimdienstes einverleiben.
Brasul brachte die „Protokolle der Weisen von Zion“ in ganz Nordamerika in Umlauf, um für die Weißgardisten Stimmung zu machen und den Amerikanern die bolschewistische Revolution als Teil einer „internationalen jüdischen Verschwörung“ darzustellen. Er ergänzte die zaristischen Fälschungen durch eigene antisemitische Schriften. Zu Beginn des Jahres 1921 veröffentlichte er in Boston ein Buch mit dem Titel „The World at the Crossroads“, in dem er behauptete, die russische Revolution sei von Juden hervorgerufen, finanziert und geleitet worden. Brasul bezeichnete den Sturz des Zaren und die darauf folgenden internationalen Entwicklungen als Auswirkungen einer „gefährlichen Bewegung, in der das Weltjudentum und Mr. Wilson gemeinsame Sache machen“.
Am l. Juli 1921 konnte Brasul in einem Brief, den er an Generalmajor Graf W. Tscherep-Spiridowitsch, einen ebenfalls in den vereinigten Staaten lebenden Emigranten, schrieb, mit Stolz bemerken:
„Ich habe während des letzten Jahres drei Bücher geschrieben, die den Juden mehr schaden werden als zehn Pogrome.“ Auch Tscherep-Spiridowitsch fabrizierte fleißig antisemitische Propaganda, die von einem berühmten amerikanischen Industriellen finanziert wurde. Der Industrielle hieß Henry Ford.
Boris Brasul stand in enger Verbindung mit Agenten der Ford-Gesellschaft, die dem Automagnaten ein Exemplar der „Protokolle“ zur Begutachtung vorlegten.
So entstand in den Vereinigten Staaten eine seltsame, üble Kampfgemeinschaft der zaristisch gesinnten Emigranten mit dem berühmten amerikanischen Industriellen, in dessen Betrieben die modernsten Produktionsmethoden der Welt zur Anwendung kamen.
Henry Ford erlebte das Kriegsende als enttäuschter, verbitterter Mann. Mit seiner Idee, ein „Friedensschiff“ nach Europa zu entsenden, hatte er sich gründlich lächerlich gemacht. Außerdem konnte er es nicht verwinden, daß es ihn große Mühe gekostet hatte, von der Wall Street eine Anleihe für die Erweiterung seiner Betriebe zu erhalten. Fords Unbildung war ebenso groß wie seine technische Begabung, und so hatten die Weißgardisten leichtes Spiel, als sie ihm einzureden versuchten, die Juden seien an all seinen Schwierigkeiten schuld. Um ihre Behauptung zu erhärten, legten sie ihm die „Protokolle der Weisen von Zion“ vor. Nach gründlichem Studium war Ford überzeugt, die Quelle seiner Sorgen gefunden zu haben. Er beschloß, das breite Publikum durch Nachdrucke in seiner Zeitung, dem „Dearborn Independent“, mit dieser antisemitischen Fälschung bekanntzumachen.
Das führte zunächst dazu, daß die Ford-Werke in Detroit von antisemitischen russischen Aristokraten, Terroristen der Weißen Garde, Pogromhelden der Schwarzen Hundertschaften und ehemaligen Agenten der zaristischen Geheimpolizei, die nach der Revolution nach Amerika ausgewandert waren, überlaufen wurden. Sie alle wollten Henry Ford davon überzeugen, daß die Regierung der Vereinigten Staaten von einem revolutionären „jüdischen Komplott“ bedroht sei und daß er in allen liberalen Gruppen und Persönlichkeiten Amerikas „Vorkämpfer des Weltjudentums“ zu sehen habe. Unter der fachmännischen Leitung dieser Leute, denen die Verbindung mit dem reichen, angesehenen Ford eine gewisse Achtbarkeit verlieh, entstand eine weitverzweigte, komplizierte Geheimorganisation, deren Zweck es war, freisinnige Amerikaner zu beobachten, reaktionäre und sowjetfeindliche Projekte zu fördern, judenfeindliche Gerüchte zu verbreiten und antisemitische Propaganda zu treiben.
Das Hauptquartier dieser Vereinigung befand sich in der Zentrale der Ford-Gesellschaft. Jedes Mitglied hatte eine Geheimnummer. Fords Privatsekretär E. G. Liebold war Nummer 121 X, W. J. Cameron, der Herausgeber des „Dearborn Independent“, hatte Nummer 122 X. Und Natalie de Bogory, die in Boris Brasuls Auftrag die „Protokolle“ ins Englische übersetzt hatte, war 29 H.
Fords Organisation erfaßte alle Gebiete des öffentlichen Lebens. Seine Agenten trieben ihr Unwesen in den Redaktionen führender Zeitungen, an berühmten Universitäten, in bekannten Handelsgesellschaften und sogar in Regierungsämtern. Dr. Harris Houghton, der früher für die amerikanische Militärspionage gearbeitet hatte, leitete den sogenannten Fordschen Detektivdienst, eine Unterabteilung der Verschwörerorganisation. Seine Geheimnummer war 103 A. Die Hauptaufgabe dieses Detektivdienstes bestand darin, vertrauliche Informationen über prominente liberale Amerikaner zu sammeln, die später für antisowjetische und antisemitische Propagandazwecke ausgewertet werden konnten. Auf der schwarzen Liste dieses Detektivdienstes standen Woodrow Wilson, Oberst Raymond Robins, Reverend John Haynes Holmes, Heien Keller und die Richter Hughes und Brandeis. Alle diese Persönlichkeiten und noch viele andere wurden in den Geheimberichten als Werkzeuge der „jüdischen Verschwörung“ gegen den amerikanischen Staat bezeichnet.
Die von dieser Spionagezentrale in Erfahrung gebrachten Tatsachen wurden in Fords „Dearborn Independent“ veröffentlicht.
Die Ford-Organisation ließ ihre Spezialagenten viele tausend Kilometer weit in überseeische Länder reisen, um neue antisemitische Verleumdungen und Fälschungen zu sammeln. Einer dieser Agenten, ein Weißgardist namens Rodionow, begab sich nach Japan, um von der dortigen weißgardistischen Kolonie bestimmte Unterlagen zu besorgen. Vor seiner Abreise telegraphierte er an Charles W. Smith, der in der Ford-Organisation eine führende. Rolle spielte:
„Meine Bedingungen sind: Sie haben sechs Monate lang die ausschließlichen Rechte auf das vereinbarte Material. Sie strecken monatlich fünfzehnhundert amerikanische Dollar vor, zahlbar bei der Yokohama Specie Bank. Sie bezahlen das bereits gelieferte Material.
Rodionow.“
Der berühmte Journalist Norman Hapgood, der später amerikanischer Gesandter in Dänemark wurde, schilderte die Zustände in der Ford-Gesellschaft:
„Die Atmosphäre, in der Fords Detektive arbeiteten, war derartig, daß von der Möglichkeit regelrechter Pogrome in Amerika gesprochen wurde. In Fords Umgebung entwickelten sich die gleichen Symptome wie im Rußland der Schwarzen Hundertschaften … Politisch bedeutete das eine Wiederholung des historischen Geschehens. Da Brasul das Haupt der in Amerika lebenden russischen Emigranten war, die dem Hause Romanow wieder auf den Thron verhelfen wollten, stellte die Logik der Ereignisse einen Zusammenhang zwischen den von Ford veranstalteten Verfolgungen und dem jahrhunderte alten Kreuzzug her, den die Despoten Europas immer wieder anfachten, um den dunklen religiösen Haß der unwissenden Massen für ihre eigennützigen Zwecke auszuwerten.“
Wie Henri Deterding in England und Fritz Thyssen in Deutschland, machte der amerikanische Automobilkönig Henry Ford gemeinsame Sache mit dem internationalen Antibolschewismus und der rasch anwachsenden faschistischen Bewegung. Die „New York Times“ zitierte in ihrer Ausgabe vom 8. Februar 1923 den Vizepräsidenten des bayrischen Landtages Auer:
„Es ist dem bayrischen Landtag schon seit längerer Zeit bekannt, daß die Hitler-Bewegung teilweise von dem amerikanischen Antisemitenführer Henry Ford finanziert wird. Mr. Fords Interesse für den bayrischen Antisemitismus begann vor einem Jahr, als einer seiner Agenten mit dem berüchtigten Alldeutschen Dietrich Eckart in Verbindung trat… Sofort nach der Rückkehr dieses Agenten trafen die ersten Geldsendungen aus Amerika in München ein.
Herr Hitler brüstet sich öffentlich mit diesen Unterstützungen und preist Mr. Ford nicht nur als große Persönlichkeit, sondern vor allem als großen Antisemiten.“
Im Hauptquartier Adolf Hitlers, einem kleinen, unansehnlichen Büro in der Corneliusstraße in München, hing ein einziges Bild an der Wand. Es war eine Photographie Henry Fords.
Sidney Reilly trat bald nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten mit den antisemitischen und antisowjetischen Agenten der Ford-Organisation in Verbindung. Er stellte mit ihrer Hilfe „eine komplette Liste aller amerikanischen Persönlichkeiten“; zusammen, „die im geheimen für die Sache des Bolschewismus arbeiteten“.[36]
Durch Reillys Bemühungen wurde auch der Kontakt zwischen den antisemitischen und antidemokratischen Vereinigungen Nordamerikas und den europäischen und asiatischen Zweigstellen der Internationalen Antibolschewistischen Liga hergestellt. Bereits im Frühjahr 1925 war das Fundament einer internationalen faschistischen Propaganda- und Spionage-Organisation geschaffen, die unter dem Deckmantel des „Antibolschewismus“ operierte.
Reilly blieb die ganze Zeit über in enger Fühlung mit seinen europäischen Agenten. Er erhielt regelmäßige Berichte aus Reval, Helsinki, Rom, Berlin und anderen Zentren der sowjetfeindlichen Propaganda. Ein Großteil der Korrespondenz, die in Reillys Büro am Broadway einlief, war chiffriert oder mit „unsichtbarer Tinte“ auf die Rückseite harmlos aussehender Geschäftsbriefe geschrieben.
Diese Mitteilungen enthielten genaue Angaben über jede neue Phase der antisowjetischen Bewegung in Europa. Der Zusammenbruch Sawinkows hatte auf weite Kreise demoralisierend gewirkt. Die Grünen Garden zerfielen in kleine Banden berufsmäßiger Terroristen und Räuber. Die übrigen sowjetfeindlichen Gruppen wurden durch Eifersüchteleien und gegenseitiges Mißtrauen zersetzt. Es hatte den Anschein, als ob die große Gegenrevolution zunächst für einige Zeit aufgeschoben werden müßte.
„Sidney erkannte richtig“, schrieb Mrs. Reilly, „daß die Gegenrevolution in Rußland ihren Anfang nehmen mußte und daß die ganze Arbeit, die er in anderen Ländern leistete, nur eine passive feindselige Stimmung des Auslands gegen die Sowjets hervorrufen konnte. Man trat mehrere Male im Namen verschiedener Moskauer Organisationen an ihn heran - so wie das zum Beispiel Drebkow in London getan hatte -, aber er war sehr vorsichtig…
Zu Beginn dieses Jahres wurde Reilly durch einen chiffrierten Brief aus Reval in freudige Aufregung versetzt. Die Nachricht stammte von seinem alten Freund Commander E., der während des Weltkrieges zusammen mit Reilly im englischen Spionagedienst gearbeitet hatte und jetzt dem britischen Konsulat eines baltischen Staates zugeteilt war. Der vom 24. Januar 1925 datierte Brief begann:
„Lieber Sidney,
Es ist möglich, daß zwei Leute namens Krasnoschtanow, ein Mann und eine Frau, Sie in meinem Auftrag in Paris aufsuchen werden. Sie werden sagen, daß sie eine Nachricht aus Kalifornien zu überbringen haben, und Ihnen einen Zettel mit einem Vers aus Omar Khayam aushändigen, an den Sie sich gewiß noch erinnern. Sollten Sie die Absicht haben, sich an ihrem Geschäft zu beteiligen, so fordern Sie die Leute zum Bleiben auf. Wenn das Geschäft Sie nicht interessiert, so sagen Sie einfach: ‚Danke vielmals, guten Tag!’“
Die „Krasnoschtanows“ waren nach dem zwischen Commander E. und Reilly vereinbarten Geheimcode ein sowjetfeindlicher Agent namens Schuitz und seine Frau; „Kaliforniens bedeutete Sowjetrußland, und unter dem „Vers aus Omar Khayam“ war eine chiffrierte Spezialnachricht zu verstehen. In dem Brief hieß es weiter:
„Ich komme jetzt auf das Geschäft zu sprechen. Diese Leute sind Vertreter eines Konzerns, der den europäischen und amerikanischen Markt aller Wahrscheinlichkeit nach in Zukunft maßgebend beeinflussen wird. Sie glauben, daß ihr Unternehmen zwei Jahre braucht, um sich richtig zu entwickeln, doch könnte es geschehen, daß der erhoffte Auftrieb infolge besonderer Umstände schon in nächster Zukunft eintritt. Es handelt sich um ein sehr großes Geschäft, über das nicht viel gesprochen werden darf …“
Commander E. fügte hinzu, daß eine „deutsche Gruppe“ sich an dem „Handel“ zu beteiligen wünsche und daß eine „französische“ und eine „englische Gruppe“ im Begriff seien, in das Geschäft einzusteigen.
Auf den „Konzern“ zurückkommend, dessen Sitz sich offenbar in Rußland befand, schrieb Commander E.:
„Sie wollen im Augenblick keinem Menschen den Namen des Mannes nennen, der hinter dieser Sache steht. Ich kann Ihnen nur das eine sagen: einige der führenden Persönlichkeiten gehören den Oppositionsgruppen an. Sie werden daher verstehen, daß größte Vorsicht am Platze ist… Ich mache Sie mit diesem Plan bekannt, weil er meiner Ansicht nach an die Stelle des anderen großen Projektes treten könnte, an dem Sie mitgearbeitet haben und das so kläglich gescheitert ist.“
Sidney Reilly und seine Frau reisten am 6. August 1925 von New York ab. Im Laufe des folgenden Monats trafen sie in Paris ein. Reilly setzte sich sofort mit Herrn und Frau Schuitz in Verbindung, die ihm einen Situationsbericht über Rußland erstatteten; die Oppositionsbewegung um Leo Trotzki hatte sich seit Lenins Tod zu einer ausgedehnten Untergrundorganisation ausgewachsen, deren Ziel die Beseitigung der Stalin-Regierung war.
Diese neue Entwicklung erschien Reilly außerordentlich bedeutungsvoll. Er konnte es nicht erwarten, mit den Führern der stalinfeindlichen Partei in persönlichen Kontakt zu treten. Nachrichten gingen hin und her, und schließlich wurde eine Zusammenkunft mit einem maßgebenden Vertreter der Bewegung an der finnischen Grenze vereinbart. Reilly fuhr zuerst nach Helsinki und besuchte dort den Generalstabschef der finnischen Armee, der sein persönlicher Freund und Mitglied der Antibolschewistischen Liga war und ihm beim Grenzübertritt behilflich sein sollte.
Kurz darauf schrieb Reilly seiner Frau, die er in Paris zurückgelassen hatte: „In Rußland ist tatsächlich etwas ganz Neues, Starkes und Bemerkenswertes im Gange.“
Eine Woche später, am 25. September 1925, sandte er ihr von Viborg aus einige rasch hingeworfene Zeilen:
„Es ist unerläßlich, daß ich für drei Tage nach Petersburg und Moskau gehe. Ich reise heute Nacht ab und bin Dienstag früh wieder hier. Du sollst wissen, daß ich diese Reise nur unternehme, weil ich es für absolut notwendig halte und weil ich von der völligen Gefahrlosigkeit überzeugt bin. Ich schreibe diesen Brief nur für den höchst unwahrscheinlichen Fall einer Komplikation. Wenn etwas dergleichen eintreten sollte, darfst Du nichts unternehmen; es würde wenig nützen, aber möglicherweise die Aufmerksamkeit der Bolschewiki auf mich lenken. Wenn ich in Rußland aus irgendeinem Grunde verhaftet werde, so kann es sich nur um eine nebensächliche, unwichtige Angelegenheit handeln, und meine neuen Freunde sind mächtig genug, um meine Befreiung durchzusetzen.“
Das war der letzte Brief des Hauptmanns Sidney Reilly vom britischen Geheimdienst…
Als Mrs. Reilly nach einigen Wochen noch immer ohne Nachricht war, setzte sie sich mit Marie Schultz in Verbindung. Sie schilderte die Zusammenkunft später in ihren Memoiren. Frau Schultz sagte:
„Als Ihr Mann in Paris eintraf, gab ich ihm einen genauen Bericht über unsere Organisation. Wir haben einige der führenden Moskauer Bolschewiki auf unserer Seite, die das Ende des gegenwärtigen Regimes wünschen, vorausgesetzt, daß für ihre persönliche Sicherheit garantiert wird.“
Hauptmann Reilly sei zuerst skeptisch gewesen. Er habe erklärt, daß ein solches Wagnis nur dann im Ausland Unterstützung finden könne, wenn die Verschwörergruppe innerhalb Rußlands eine gewisse nachweisbare Stärke habe.
„Ich versicherte ihm“, sagte Frau Schultz, „daß der Apparat in Rußland mächtig, einflußreich und gut organisiert ist.“
Frau Schultz berichtete weiter über ein Zusammentreffen Reillys mit Repräsentanten der Opposition in der finnischen Stadt Viborg.
„Sie gefielen Hauptmann Reilly außerordentlich“, sagte Frau Schultz, „besonders ihr Führer, ein sehr hochgestellter Bolschewik, der trotz seiner offiziellen Funktion zu den glühendsten Feinden des Regimes gehört.“
Am nächsten Tag traten Reilly und die russischen Verschwörer unter dem Schutz sorgfältig ausgewählter Wachsoldaten den Marsch zur Grenze an. „Ich ging selbst bis zur Grenze mit“, berichtete Frau Schultz, „um ihnen gute Fahrt zu wünschen. Sie blieben bis zum Einbruch der Dunkelheit in einem finnischen Blockhaus, das am Ufer eines Flusses stand. Wir warteten ziemlich lange, die Finnen fürchteten das Erscheinen einer russischen Patrouille, aber alles blieb still. Schließlich ließ sich einer der Finnen vorsichtig ins Wasser gleiten und gelangte halb schwimmend, halb watend zum gegenüberliegenden Ufer. Ihr Mann folgte ihm…“
Seitdem hatte Frau Schultz Hauptmann Reilly nicht mehr gesehen.
Nachdem sie ihre Erzählung beendet hatte, reichte sie Mrs. Reilly einen Ausschnitt aus der russischen Zeitung „Iswestija“. Darin war zu lesen:
„In der Nacht vom 28. auf den 29. September versuchten vier Schmuggler die finnische Grenze zu überschreiten. Zwei wurden getötet, einer, ein finnischer Soldat, wurde gefangengenommen, der vierte erlag seinen Verletzungen.“
Später stellte sich heraus, daß Reilly die Sowjetgrenze glücklich passiert und mit verschiedenen Mitgliedern der stalinfeindlichen Gruppe gesprochen hatte. Auf dem Rückweg wurde er plötzlich von einer russischen Grenzwache gestellt. Reilly und seine Begleiter versuchten zu fliehen. Die Grenzsoldaten eröffneten das Feuer. Reilly wurde von einer Kugel in die Stirn getroffen, er war sofort tot.
Erst nach mehreren Tagen stellten die Sowjetbehörden die Identität des erschossenen „Schmugglers“ fest, worauf sie den Tod des Hauptmanns Sidney Reilly, Mitglied des britischen Geheimdienstes, offiziell bekanntgaben.
Die Londoner „Times“ brachte eine Notiz von zwei Zeilen: „Sidney Reilly wurde am 28. September bei dem Dorf Allekul in Rußland von Soldaten der GPU erschossen.“
ANMERKUNGEN
Sidney Reilly konnte diesen Sieg über Sowjetrußland nicht für sich allein in Anspruch nehmen. Es gab noch andere Leute in den Vereinigten Staaten, die sich mit gleicher Heftigkeit und Energie bemühten, die Anleihe zu vereiteln. Zu ihnen gehörte der damalige Handelsminister Herbert Hoover, der die Bolschewiki mit unvermindertem Haß verfolgte. Hoover erklärte Litwinow am 31. März 1921: „Solange Rußland sich unter bolschewistischer Herrschaft befindet, ist die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen mit Rußland viel mehr eine politische als eine wirtschaftliche Frage.“
Die sogenannten Sisson-Dokumente, die zu beweisen versuchten, daß Lenin und andere Sowjetführer im Sold des deutschen Heereskommandos standen, wurden nach der Oktoberrevolution vom USA-Staatsdepartement in den Vereinigten Staaten veröffentlicht und verbreitet. Der englische Geheimdienst, dem diese Dokumente ursprünglich von Weißgardisten zum Kauf angeboten worden waren, hatte sie als grobe Fälschung zurückgewiesen. Edgar Sisson, ein Beamter des USA-Staatsdepartements, kaufte die Dokumente und brachte sie nach Washington. Später wurde die Lügenhaftigkeit der Dokumente einwandfrei festgestellt.
Diese Liste, in der die Namen sämtlicher prominenter Amerikaner verzeichnet waren, die sich jemals günstig über Sowjetrußland geäußert hatten, diente in späteren Jahren den amerikanischen Faschisten und Naziagenten als nützliches Vorbild. Die antisemitische Propagandaschriftstellerin Elisabeth Dilling machte bei der Zusammenstellung ihres berüchtigten Buches „Red Network“ von dieser und ähnlichen Listen reichlich Gebrauch. George Sylvester Viereck, Oberst Emerson, Oscar Pfaus und andere Naziagenten oder Mitglieder der Fünften Kolonne verwendeten diese Angaben ebenfalls bei ihrer Propagandaarbeit.
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