Um die Mitte der zwanziger Jahre schien es auf der Welt einigermaßen friedlich zuzugehen. Aber unter der ruhigen Oberfläche bereitete sich der Sturm vor. Das Beispiel der russischen. Revolution hatte in den riesigen Gebieten, die unter kolonialer oder halbkolonialer Verwaltung standen, neue Freiheitshoffnungen geweckt. Der ohnedies schwankende Bau des Kolonialimperialismus war durch das erstarkende Nationalbewußtsein all dieser Völker ernstlich bedroht…
Das Frühjahr 1926 brachte eine Krise. Die chinesische Revolution flammte auf: die vereinten Streitkräfte der Kuomintang und der Kommunisten stürzten die unter dem Schutz des westlichen Imperialismus stehende korrupte Diktatur von Peking und begründeten ein freies China.
Die durch dieses Ereignis in Asien und der westlichen Welt hervorgerufene Angst und Verzweiflung fand in einer neuen Hochflut sowjetfeindlicher Propaganda Ausdruck. Die chinesische Revolution, in der sich Hunderte von Millionen gegen die Unterdrückung durch fremde und inländische Machthaber auflehnten, wurde als direkte Auswirkung eines „Moskauer Komplotts“ gebrandmarkt.
Der japanische Kaiser machte sich sofort erbötig, in Asien ein „Bollwerk gegen den Bolschewismus“ zu errichten. Unter dem Beifall der Westmächte traf Japan Vorbereitungen für eine Intervention in China, deren Ziel die Unterdrückung der Revolution war. Der japanische Ministerpräsident General Tanaka unterbreitete dem Kaiser jene berühmte Denkschrift, in der er die letzten Ziele des japanischen Imperialismus darlegte:
„Um die Welt erobern zu können, müssen wir zuerst China erobern; dann werden uns alle anderen asiatischen Länder der Südsee fürchten und vor uns kapitulieren. Die Welt wird begreifen, daß Ostasien uns gehört… Wenn wir die Reichtümer Chinas in unserem Besitz haben, werden wir zur Eroberung Indiens, des Inselmeers, Kleinasiens, Mittelasiens und sogar Europas übergehen. Aber der erste Schritt ist die Machtergreifung in der Mandschurei und Mongolei… Früher oder später wird der Kampf gegen Sowjetrußland unvermeidlich werden… Wenn wir unsere künftige Herrschaft über China sichern wollen, müssen wir zunächst die Vereinigten Staaten vernichten."[37]
Im März 1927 behauptete der in japanischem Sold stehende chinesische General Tschang Tso-lin, bei einer gewaltsamen Durchsuchung der Sowjetischen Botschaft in Peking Beweise für eine bolschewistische Verschwörung gegen China gefunden zu haben.
Das war das Signal für den Ausbruch der chinesischen Gegenrevolution. Japan, England und Frankreich versprachen, Tschiang Kai-schek anzuerkennen und ihm Geld und Waffen zur Verfügung zu stellen; durch diese Zusagen ermutigt, löste er die Einheitsfront auf und führte die Kuomintang-Truppen gegen seine früheren revolutionären Bundesgenossen. Es kam zu einem Massaker. In Sehanghai, Peking und anderen Städten wurden Tausende chinesischer Arbeiter, Studenten und Bauern wegen ihrer freiheitlichen oder kommunistischen Gesinnung festgenommen und erschossen oder in Sammellager gesperrt und zu Tode gemartert. In China tobte der Bürgerkrieg.
Aber die chinesische Revolution hatte dem in allen asiatischen Ländern schlummernden Freiheitswillen zum Durchbruch verholfen. In Indonesien, Indochina, Burma und Indien kochte es. Die Imperialisten waren schwer beunruhigt und suchten bei Japan Schutz vor dem „Bolschewismus“. Zur gleichen Zeit holten die europäischen Generalstäbler die alten Pläne für einen antibolschewistischen Kreuzzug und einen allgemeinen Angriff auf Moskau aus ihren Aktenschränken hervor.
Auf der internationalen Diplomatenkonferenz in Locarno und in den Jahren 1925/26 hatten die englisch-französischen Diplomaten mit Deutschland intensive Verhandlungen über ein gemeinsames Vorgehen gegen Sowjetrußland geführt.
In einer Rede, die der Sprecher der Konservativen, der Right Honourable W. C. A. Ormsby-Gore, am 23. Oktober 1924 in Manchester hielt, wurde das in Locarno verfolgte Ziel mit aller wünschenswerten Deutlichkeit formuliert:
„Alle Mitglieder der christlichen Zivilisation müssen sich zusammenschließen, um die unheilvollste Kraft nicht nur unserer Zeit, sondern der ganzen europäischen Entwicklung zu bekämpfen.
In Locarno geht es meiner Ansicht nach um folgendes:
Wird Deutschland seine Zukunft an das Geschick der westlichen Großmächte binden oder gemeinsam mit Rußland auf die Zerstörung der westlichen Zivilisation hinarbeiten? Die Bedeutung der Verhandlungen von Locarno ist unabsehbar. Es handelt sich darum, daß die derzeitige Regierung Deutschlands von Rußland abrückt und mit dem Westen gemeinsame Sache macht.“
Der französische Ministerpräsident Raymond Poincare setzte sich Öffentlich für eine gemeinsame militärische Offensive aller europäischen Mächte - auch Deutschlands - gegen die Sowjetunion ein.
Die imperialistische, demokratenfeindliche Berliner Presse verkündete, daß der richtige Augenblick für die Vernichtung des Bolschewismus gekommen sei. Nach einer Reihe von Konferenzen mit Reichswehrgeneralen und der Nazipartei nahestehenden Industriellen eilte General Max Hoffmann nach London, um dem Außenamt und einem kleinen Kreis von konservativen Parlamentsmitgliedern und Militärs seinen berühmten Plan vorzulegen. Am 5. Januar 1926 veröffentlichte die „Morning Post“ einen sensationellen Brief des Sir Henri Deterding. Deterding behauptete, die Pläne für einen neuen Interventionskrieg gegen Sowjetrußland seien fix und fertig:
„… im Laufe weniger Monate wird Rußland in den Kreis der Zivilisation zurückkehren, aber unter einer besseren Regierung, als das Zarenregime es war… Vor Ende dieses Jahres wird der Bolschewismus in Rußland erledigt sein; und dann wird Rußland in der ganzen Welt Kredit genießen, es wird allen, die zur Mitarbeit bereit sind, seine Grenzen öffnen. Geld und Kredite und, was noch wichtiger ist, neue Aufträge werden nach Rußland strömen.“
Der bekannte rechtsstehende französische Journalist Jacques Bainville bemerkte dazu: „Wenn der Präsident der Royal Dutch das Ende des Sowjetregimes für ein bestimmtes Datum voraussagt, dann hat er seine guten Gründe…“
Am 3. März 1927 äußerte sich Viscount Grey im englischen Oberhaus: „Die Sowjetregierung ist keinesfalls das, was wir im allgemeinen unter nationaler Regierung verstehen. Sie kann nicht im gleichen Sinne als russische Regierung bezeichnet werden, wie die französische Regierung französisch oder die deutsche Regierung deutsch zu nennen ist.“
Am 12. Mai 1927 nahmen englische Polizisten und Agenten des Geheimdienstes eine Hausdurchsuchung im Büro der „Arcos“, einer englisch-sowjetischen Aktiengesellschaft in London, vor. Sie verhafteten die Beamten, durchsuchten die Räume, brachen Aktenschränke und Safes auf und bohrten sogar Löcher in die Fußböden, Decken und Wände, um „Geheimarchiven“ auf die Spur zu kommen. Keinerlei belastende Dokumente wurden gefunden; aber die „Morning Post“, die „Daily Mail“ und andere sowjetfeindliche Zeitungen veröffentlichten die tollsten Geschichten über die angeblich bei der Arcos vorgefundenen „Beweise“ für ein sowjetisches Komplott gegen England.
Die konservative englische Regierung brach den Handelsverkehr und die diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion ab.
Im Sommer desselben Jahres kam es in Berlin und Paris zu ähnlichen Überfällen auf sowjetische Konsulate und andere offizielle Dienststellen. Im Juni wurde der sowjetische Botschafter in Polen, W. I. Wojkow, in Warschau ermordet. In Leningrad fielen Bomben in einen Parteiklub…[38]
Marschall Foch deutete in einem Interview, das er dem „London Sunday Referee“ am 21. August 1927 gewährte, die Zielrichtung all dieser Gewalttaten an:
„Im Februar 1919, in der Frühzeit des Leninschen Staates, erklärte ich auf der Pariser Botschafterkonferenz, daß ich es auf mich nehmen würde, die bolschewistische Gefahr für immer zu erledigen, wenn Rußlands Nachbarstaaten Munition und Kriegsmaterial erhielten. Ich wurde mit dem Argument der Kriegsmüdigkeit überstimmt, aber es zeigte sich bald, wie recht ich gehabt hatte.“
In einem Brief an Arnold Rehberg, einen der eifrigsten Förderer der deutschen Nazibewegung, erklärte Marschall Foch:
„Solange Frankreich und Deutschland nicht einig sind, kann nichts unternommen werden. Übermitteln Sie General Hoffmann, dem großen Vorkämpfer der antibolschewistischen Militärallianz, meine besten Grüße.“
Der Krieg konnte beginnen.
ANMERKUNGEN
Die Tanaka-Denkschrift, später als der japanische „Mein Kampf“ bekannt, wurde im Jahre 1927 geschrieben. Man hörte zum erstenmal davon, als Tschang Hsue-liang, der „Junge Marshall“ der Mandschurei, das Dokument einem japanischen Agenten abkaufte. Das China-Komitee des Instituts für Beziehungen im Pazifik veröffentlichte die Denkschrift in den Vereinigten Staaten und machte sie dadurch der Öffentlichkeit zugänglich.
Zur gleichen Zeit bereitete die trotzkistische Opposition innerhalb Sowjetrußlands den Sturz der Sowjetregierung vor. Am 7. November 1927 fand ein trotzkistischer Putschversuch statt. Eine Anzahl von Trotzkisten wurde verhaftet, Trotzki selbst wurde verbannt.
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