In den Jahren 1933/34 wurden die europäischen Völker von einem seltsamen Übel heimgesucht. Ein Land nach dem anderen erlebte plötzlich Erschütterungen durch Staatsstreiche, Militärputsche, Sabotageakte, Attentate und die unerwartete Aufdeckung von Komplotten und Verschwörungen. Kaum ein Monat verging, in dem nicht neue Gewalttaten und Verrätereien verübt wurden. In Europa herrschte eine Epidemie des Terrors und Verrats.
Der Infektionsherd lag in Nazideutschland. Am 11. Januar 1934 berichtete „United Press“ aus London: „Die gewalttätige Propaganda der neuen faschistischen Bewegungen, die an den unvermeidlichen Untergang der alten Regierungsform glauben, hat den ganzen Kontinent ergriffen; das Zentrum all dieser Bestrebungen ist das nationalsozialistische Deutschland.“
Der Ausdruck „Fünfte Kolonne“ war damals noch unbekannt. Aber die Wegbereiter der deutschen Heeresleitung hatten ihre Geheimoffensive gegen die Völker Europas bereits begonnen. Die Cagoulards und das Croix de Feu in Frankreich; die britische Union of Fascists; die belgischen Rexisten; die polnische POW; die Henlein-Leute und die Hlinka-Garde in der Tschechoslowakei; die norwegischen Quislinge; die Eiserne Garde in Rumänien; die bulgarische IMRO; die finnische Lappo; der litauische Eiserne Wolf; das lettische Feuerkreuz und viele andere neugeschaffene nazistische Geheimorganisationen oder wiedererstandene gegenrevolutionäre Verbände waren an der Arbeit, um die Eroberung und Niederwerfung des Kontinents durch die deutsche Wehrmacht und den Angriff auf die Sowjetunion vorzubereiten.
Die nachfolgende Liste enthält nur einen Teil der wichtigsten faschistisch-nationalistischen Terrorakte, die sich kurz nach Hitlers Machtergreifung ereigneten:
Oktober 1933: Ermordung des sowjetischen Botschaftssekretärs in Lwow (Polen), A. Mailow, durch Agenten der von den Nazis finanzierten terroristischen Organisation der ukrainischen Nationalisten „OUN“.
Dezember 1933: Ermordung des rumänischen Ministerpräsidenten Duca durch die Eiserne Garde - die terroristische Organisation der rumänischen Nazis.
Februar 1934: Aufstand des Croix de Feu, der unter nazistischem Einfluß stehenden französischen Faschistenorganisation in Paris.
März 1934: Putschversuch der von den Nazis finanzierten faschistischen „Freiheitskämpfer“ in Estland.
Mai 1934: Faschistischer Staatsstreich in Bulgarien.
Mai 1934: Putschversuch der unter nazistischer Leitung stehenden Baltischen Brüderschaft in Lettland.
Juni 1934: Ermordung des polnischen Innenministers General Bronislaw Pieracki durch Agenten der von Nazis finanzierten ukrainisch-nationalistischen Terrororganisation „OUN“.
Juni 1934: Ermordung des Leiters der Katholischen Aktion in Polen, Iwan Babiy, durch Agenten der „OUN“.
Juni 1934: Versuch eines Massenaufstandes in Litauen, eingeleitet von der nazistischen Organisation des „Eisernen Wolf“.
Juli 1934: Mißglückter Naziputsch in Österreich; Ermordung des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß durch Naziterroristen.
Oktober 1934: Ermordung des jugoslawischen Königs Alexander und des französischen Außenministers Barthou durch Agenten der unter nationalsozialistischem Einfluß stehenden kroatischen Faschistenorganisation „Ustaschi“.
Zwei Männer trugen die Hauptverantwortung für die Leitung und Überwachung dieser Umtriebe der Fünften Kolonne, die sich bald weit über Europa hinaus nach den Vereinigten Staaten, Südamerika und Afrika erstreckte und in Zusammenarbeit mit dem japanischen Geheimdienst sämtliche Gebiete des Fernen Ostens erfaßte. Diese beiden Männer waren Alfred Rosenberg und Rudolf Heß. Rosenberg leitete das Außenpolitische Amt der NSDAP, dessen Aufgabe es war, Tausende von Spionage-, Sabotage- und Propagandaagenturen in allen Ländern der Welt zu betreuen. Osteuropa und Sowjetrußland waren die wichtigsten Arbeitsgebiete. Die Geheimverhandlungen mit dem Ausland wurden ausschließlich von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß geführt.
Alfred Rosenberg, der zaristische Emigrant aus Reval, war der erste, der eine Geheim Verbindung zwischen der nazistischen Regierung und Leo Trotzki anbahnte. Der Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß trug das Seinige zum Ausbau dieser Beziehung bei.
Im September 1933, acht Monate nach Hitlers Machtergreifung, begab sich der trotzkistische Diplomat und deutsche Agent Nikolai Krestinski, der damals Stellvertretender Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten war, wie alljährlich zur Erholung nach Kissingen. Auf der Hinreise hielt er sich einige Tage in Berlin auf, wo er mit Sergei Bessonow, dem Verbindungsmann der Trotzkisten in der Berliner Botschaft, zusammenkam. In größter Erregung teilte er Bessonow mit, daß „Alfred Rosenberg, der Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP, in unseren Kreisen Fühler ausgestreckt“ habe, um die „Möglichkeiten eines Geheimabkommens zwischen den deutschen Nationalsozialisten und den russischen Trotzkisten zu sondieren“.
Krestinski erklärte Bessonow, daß er unter allen Umständen mit Trotzki zusammenkommen müsse. Er würde sich bis Ende September in einem Sanatorium in Kissingen aufhalten und dann nach dem im italienischen Tirol gelegenen Meran[56] fahren. Die Begegnung mit Trotzki könne bei Anwendung entsprechender Vorsichtsmaßregeln in beiden Orten stattfinden.
In der zweiten Oktoberwoche des Jahres 1933 reiste Trotzki unter falschem Namen über die französisch-italienische Grenze. Sein Sohn Sedow begleitete ihn.
Im Verlauf der Unterredungen, die Trotzki im Hotel Bavaria in Meran mit Krestinski führte, kamen alle wichtigen Probleme der künftigen Entwicklung der trotzkistischen Verschwörung in Rußland zur Spräche. Trotzki erklärte unumwunden, daß der Umsturz in Rußland nur „durch Gewalt“ erzielt werden könne. Aber die Verschwörer seien zu schwach, um ohne Hilfe von außen einen erfolgreichen Putsch durchzuführen und die Macht in der Hand zu behalten. Es sei daher unbedingt notwendig, zu konkreten Abmachungen mit denjenigen Staaten zu gelangen, für die das Zusammengehen mit den Trotzkisten eine Förderung der eigenen Ziele bedeute.
„Unser Vertrag mit der Reichswehr“, meinte Trotzki, „war der erste Ansatz zu einem solchen Abkommen, konnte aber aus zwei Gründen weder die Trotzkisten noch die Deutschen zufriedenstellen: erstens war der Vertragspartner nicht die deutsche Regierung in ihrer Gesamtheit, sondern nur die deutsche Reichswehr … und zweitens; was war der Inhalt unserer Vereinbarung mit der Reichswehr? Wir erhielten einen geringfügigen Betrag, die Reichswehr erhielt militärische Daten, die ihr im Falle eines Konfekts zugute kommen konnten. Aber die deutsche Regierung, in erster Linie Hitler, will nicht nur Spionagematerial, sondern Kolonien, Land. Und Hitler ist bereit, statt der Kolonien, die er England, Amerika und Frankreich abkämpfen müßte, sowjetisches Gebiet zu nehmen. Wir unsererseits brauchen die 250000 Goldmark nicht. Wir brauchen für unseren Machtkampf den Beistand der deutschen Streitkräfte. Und auf dieses Ziel sollte unsere weitere Arbeit gerichtet sein.“
Vor allem, sagte Trotzki, sei es notwendig, eine Vereinbarung mit der deutschen Regierung zu erreichen. „Aber auch Japan ist eine Macht, mit der wir uns einigen müssen“, fügte er hinzu. Die russischen Trotzkisten sollten sofort bei den japanischen Vertretern in Moskau „sondieren“. „In diesem Zugammenhang kann sich Sokolnikow nützlich machen, der im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten arbeitet.“
Dann behandelte Trotzki den inneren Aufbau des russischen Verschwörerapparates.
„Selbst wenn die Sowjetunion beispielsweise von Deutschland angegriffen wird, gibt uns das noch nicht die Möglichkeit, zur Macht zu gelangen; dazu bedarf es einer gewissen Vorbereitung im Inneren… Wir brauchen Stützpunkte sowohl in den Städten als auch auf dem Lande; diesen Rückhalt finden wir bei den Kleinbürgern und Kulaken, zu denen die Rechte gute Beziehungen hat. Und schließlich brauchen wir eine sympathisierende Organisation in der Leitung der Roten Armee, damit wir im geeigneten Augenblick mit vereinten Kräften die wichtigsten Punkte besetzen und die Macht an uns reißen können; die jetzige Regierung muß verhaftet und durch unsere eigene, im vorhinein zusammengestellte Regierung ersetzt werden.“
Trotzki riet Krestinski, sich nach seiner Rückkehr mit dem stellvertretenden Generalstabschef der Roten Armee, General Tuchatschewski, in Verbindung zu setzen. „Das ist ein Mann vom Schlage Bonapartes“, sagte Trotzki, „ein ehrgeiziger Abenteurer, der nicht nur militärisch, sondern auch politisch eine Rolle spielen möchte und zweifellos gemeinsame Sache mit uns machen wird.“
Die russischen Trotzkisten sollten General Tuchatschewski in jeder Weise unterstützen, aber gleichzeitig ihren eigenen Leuten Schlüsselstellungen sichern, da die neue Regierung sonst nach der Machtergreifung in ein Abhängigkeitsverhältnis von dem ehrgeizigen General geraten könnte.
Zum Schluß erhielt Krestinski den Auftrag, Trotzkis besondere Anweisungen für die Durchführung der Terror- und Sabotagekampagne an Pjatakow weiterzuleiten. In diesem Zusammenhang erklärte Trotzki, daß bei den Sabotage- und Terrorakten zwei Gesichtspunkte maßgebend seien. Erstens „die Schwächung der Defensivkraft der Roten Armee in Kriegszeiten und die Desorganisierung der Regierung unmittelbar vor dem Putsch.“ Zweitens würden solche Maßnahmen zur Festigung seiner Stellung beitragen und sein „Selbstvertrauen bei den Verhandlungen mit den auswärtigen Mächten stärken“, da er auf die wachsende „Kraft und Aktivität seiner Anhänger in der Sowjetunion hinweisen“ könnte.
Krestinski kehrte nach Moskau zurück und erstattete in einer Geheimversammlung genauen Bericht über seine Zusammenkunft mit Trotzki. Einige der Verschwörer, in erster Linie Karl Radek, der als Trotzkis „Außenminister“ galt, waren darüber verstimmt, daß Trotzki so wichtige Verhandlungen angebahnt hatte, ohne vorher ihren Rat einzuholen.
Nachdem Radek Krestinskis Bericht angehört hatte, ersuchte er Trotzki in einem besonderen Schreiben um „weitere Aufklärungen über die Fragen der Außenpolitik“. Trotzkis Antwort wurde ihm einige Wochen später durch einen jungen Auslandskorrespondenten der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass, Wladimir Komm, ausgehändigt, der den Trotzkisten Kurierdienste leistete. Komm hatte den Brief von Trotzki in Paris erhalten und im Deckel des populären sowjetischen Romans „Tsuschima“ nach Rußland geschmuggelt. Radek äußerte sich später über den Inhalt dieses Schreibens:
„Trotzki formulierte das Problem folgendermaßen: Der Aufstieg des Faschismus in Deutschland hat die Weltlage von Grund auf verändert. Es muß in absehbarer Zeit zum Ausbruch eines Krieges kommen, um so mehr, als die Gegensätze im Fernen Osten sich ebenfalls verschärft haben. Trotzki zweifelte nicht daran, daß dieser Krieg zu einer Niederlage der Sowjetunion führen würde. Diese Niederlage, schrieb er, wird günstige Voraussetzungen für den Sieg des „Blocks“ schaffen… Trotzki erklärte, er sei mit einer gewissen fernöstlichen Macht und einem mitteleuropäischen Staat in Verbindung getreten und habe halboffiziellen Kreisen dieser beiden Mächte offen erklärt, daß der Block bei entsprechenden Gegenleistungen zu erheblichen wirtschaftlichen und territorialen Zugeständnissen bereit sei.“
In demselben Brief teilte er Radek mit, daß gewisse Auslandsvertreter in allernächster Zukunft an die im diplomatischen Dienst beschäftigten russischen Trotzkisten herantreten würden. In solchen Fällen sollten die trotzkistischen Diplomaten ihre Loyalität für Trotzki betonen und den Auslandsvertretern ihre völlige Übereinstimmung mit Trotzkis Ansichten bestätigen …
Kurze Zeit darauf stürzte eines Tages der trotzkistisch gesinnte Stellvertretende Volkskommissar für Fernöstliche Angelegenheiten, Grigori Sokolnikow, in Radeks Büro in der „Iswestija“. Nervös und aufgeregt stieß er hervor: „Denke dir folgende Situation: im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten sind Verhandlungen im Gange. Die Unterhaltung nähert sich ihrem Ende, die Dolmetscher verlassen den Raum. Plötzlich fragt mich der japanische Botschafter, ob ich über die Vorschläge unterrichtet bin, die Trotzki seiner Regierung unterbreitet hat?“
Sokolnikow fühlte sich in höchstem Grade beunruhigt. „Wie stellt sich Trotzki das vor?“ fragte er Radek. „Wie kann ich als Stellvertretender Volkskommissar derartige Verhandlungen führen? Er bringt mich in eine unmögliche Situation.“
Radek versuchte, seinen erbosten Freund zu beruhigen. „Reg dich nicht auf“, sagte er. „Trotzki weiß offenbar nicht, wie die Dinge hier bei uns liegen.“ Er versicherte Sokolnikow, daß derartige Vorfälle sich nicht wiederholen würden. Er habe Trotzki bereits geschrieben, daß es für russische Trotzkisten unmöglich sei, „unter den Augen der GPU“ mit deutschen und japanischen Agenten zu verhandeln. Die russischen Trotzkisten müßten Trotzki ermächtigen, die Verhandlungen nach eigenem Ermessen fortzuführen, vorausgesetzt, daß er sie über die weitere Entwicklung auf dem laufenden halte.
Als Radek bald danach an einem Diplomatenempfang in Moskau teilnahm, trat ein deutscher Diplomat auf ihn zu und sagte in aller Ruhe: „Unsere Regierung weiß, daß Herr Trotzki sich um eine Annäherung an Deutsehland bemüht. Unser Führer möchte wissen, was davon zu halten ist? Handelt es sich nur um das Hirngespinst eines schlaflosen Emigranten oder was steckt sonst dahinter?“
Radek beschrieb später seine Reaktion auf diesen unerwarteten nazistischen Vorstoß:
„Diese Unterhaltung dauerte natürlich nicht länger als zwei Minuten. Die Atmosphäre eines diplomatischen Empfangs ist für langatmige Auseinandersetzungen nicht geeignet. Ich mußte mich buchstäblich in der Sekunde zu einer Antwort entschließen … Ich sagte, daß realistische Politiker in der UdSSR die Wichtigkeit einer deutsch-sowjetischen Annäherung begrüßen und bereit sind, die für eine solche Annäherung notwendigen Zugeständnisse zu machen.“
In der Nacht zum 30. Juni 1934 wütete der nazistische Terror in den eigenen Reihen. Hitler liquidierte die aufsässigen Elemente seiner Partei. Hauptmann Ernst Röhm, der Stabschef der SA, Edmund Heines, der Obergruppenführer von Ostdeutschland, Karl Ernst, Kommandant der Berliner SA und viele ihrer Freunde und Anhänger in Berlin und München wurden im Laufe von vierundzwanzig Stunden erschossen. In der ganzen nationalsozialistischen Bewegung herrschte Angst und Unruhe.
Trotzki beauftragte sofort einen seiner verläßlichsten „Sekretäre“, den internationalen Spion Karl Reich, alias Johanson, nach Berlin zu reisen und den dortigen trotzkistischen Verbindungsmann Sergei Bessonow aufzusuchen. Bessonow sollte nach Paris kommen, um Trotzki einen genauen Bericht über die innere Entwicklung Deutschlands zu erstatten.
Es war Bessonow unmöglich, sofort nach Paris zu reisen, aber Ende Juli konnte er sich frei machen. Nachdem er Trotzki in einem Pariser Hotel die Situation in Deutschland geschildert hatte, kehrte er am gleichen Abend nach Berlin zurück. Trotzki befand sich während der Unterredung mit Bessonow in großer Erregung. Er fürchtete, daß die Ereignisse in Deutschland, die Beseitigung der „radikalen Nazis“, seine Pläne gefährden könnten. Bessonow versicherte ihm, daß Hitler, Himmler, Heß, Rosenberg, Göring und Goebbels die Macht noch immer fest in den Händen hätten.
„Sie werden schon zu uns kommen“, rief Trotzki aus. Er erklärte Bessonow, daß er ihn bald mit der Durchführung wichtiger Aufgaben betrauen werde. „Wir können uns keine Empfindlichkeit leisten“, sagte Trotzki. „Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, bedeutende territoriale Zugeständnisse zu machen, um von Heß und Rosenberg durchgreifende Hilfe zu erlangen. Wir müssen uns mit der Abtretung der Ukraine einverstanden erklären. Vergessen Sie das nicht, wenn Sie mit den Deutschen verhandeln. Ich werde im gleichen Sinne an Pjatakow und Krestinski schreiben.“
In den verschiedenen Büros des sowjetischen diplomatischen Dienstes wurde ein Netz des Verrates gesponnen. Nicht nur in Europa, sondern auch im Fernen Osten beteiligten sich Botschafter, Sekretäre, Attaches und kleine Konsulatsbeamte an diesem Intrigenspiel.
Auch der Botschafter der Sowjetunion in Japan, Jurenew, gehörte dem Verschwörerapparat an. Seit 1926 war er Mitglied der trotzkistischen Bewegung. Er hatte auf Trotzkis Anweisung die Verbindung mit dem japanischen Geheimdienst hergestellt. Jurenew wurde bei seinen Verhandlungen mit Japan von Trotzkis altem Freund, dem ehemaligen Botschafter der Sowjetunion in England und Frankreich, Christian Rakowski, unterstützt. Rakowski spielte zu dieser Zeit nicht mehr die Rolle eines einflußreichen Mannes im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, sondern arbeitete als Beamter in verschiedenen Kommissionen des öffentlichen Gesundheitswesens. In der Untergrundbewegung galt er immer noch als wichtige Persönlichkeit.
Im September 1934 reiste Rakowski mit einer sowjetischen Delegation nach Japan, um an einer internationalen Konferenz der Organisationen des Roten Kreuzes teilzunehmen, die im Oktober in Tokio stattfinden sollte. Vor seiner Abreise wurde ihm vom Moskauer Volkskommissariat für Schwerindustrie ein geschlossenes Kuvert zugestellt. Der inliegende Brief stammte von Pjatakow und sollte dem Botschafter Jurenew in Tokio übergeben werden. Auf der Rückseite dieser scheinbar völlig harmlosen wirtschaftlichen Anfrage befand sich die mit unsichtbarer Tinte geschriebene Mitteilung, daß Rakowski bei den Verhandlungen mit den Japanern „verwendet“ werden könne.
Am Tage nach seiner Ankunft in Tokio wurde Rakowski in einem Korridor des Roten-Kreuz-Gebäudes von einem japanischen Agenten angesprochen. Der Japaner bemerkte, daß die Ziele der russischen trotzkistischen Bewegung sich mit denen der japanischen Regierung „vollständig deckten“. Der Agent gab seiner Überzeugung Ausdruck, Rakowski werde imstande sein, wertvolle Informationen über die innere Lage Sowjetrußlands nach Tokio gelangen zu lassen.
Am gleichen Abend gab Rakowski den Inhalt dieser Unterredung an Jurenew weiter. „Man verlangt von mir Spionagedienste“, sagte Rakowski, „ich soll der japanischen Regierung Informationen liefern.“
„Es liegt kein Grund vor, die Entscheidung hinauszuschieben“, antwortete der trotzkistische Botschafter. „Die Würfel sind gefallen.“
Einige Tage später war Rakowski bei einem hohen Offizier des japanischen Geheimdienstes zum Abendessen eingeladen. Der Japaner machte keine langen Umschweife. „Wir wissen, daß Sie ein Anhänger und intimer Freund Trotzkis sind“, sagte er. „Ich muß Sie ersuchen, ihm zu schreiben, daß unsere Regierung sowohl mit seinen Artikeln über die chinesische Frage als auch mit dem Benehmen der chinesischen Trotzkisten unzufrieden ist. Wir haben das Recht, von Herrn Trotzki eine andere Haltung zu erwarten. Herr Trotzki müßte für die Erfordernisse des Augenblicks mehr Verständnis haben. Wir brauchen uns nicht in Einzelheiten zu verlieren; aber es ist klar, daß die Provokation eines Zwischenfalls in China den erwünschten Vorwand für eine Intervention liefern würde.“
Dann legte der japanische Offizier die Richtlinien für den künftigen Nachrichtendienst fest: die japanische Regierung sei in erster Linie an vertraulichen Informationen über die Kollektivwirtschaften, Eisenbahnen, Bergwerke und Industrien der UdSSR unter besonderer Berücksichtigung der östlichen Gebiete interessiert. Er stellte Rakowski verschiedene Codes zur Verfügung und vereinbarte Decknamen für Spione. Dr. Naida, einer der Sekretäre der Roten-Kreuz-Delegation, sollte als Mittelsmann zwischen Rakowski und dem japanischen Geheimdienst fungieren.
Vor seiner Abreise aus Tokio unterhielt sich Rakowski noch einmal mit Jurenew. Der trotzkistische Botschafter war in niedergeschlagener Stimmung. „Wir haben uns selbst in eine so schwierige Lage gebracht, daß wir manchmal nicht mehr wissen, wie wir uns benehmen sollen!“ bemerkte er mißmutig. „Wenn wir einen unserer Partner zufriedenstellen, müssen wir fürchten, einen anderen Bundesgenossen vor den Kopf zu stoßen. In der letzten Zeit ist es beispielsweise in der chinesischen Frage zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Japan und Großbritannien gekommen, und wir unterhalten gleichzeitig Beziehungen zum englischen und zum japanischen Geheimdienst. Ich bin gezwungen, ununterbrochen zu liieren!“
Rakowski antwortete: „Wir Trotzkisten setzen im Augenblick auf drei Karten: Deutschland, Japan und England … Unsere jetzige Politik ist ein Spiel mit höchstem Einsatz; aber wenn solch ein riskantes Abenteuer gut ausgeht, dann bezeichnet man die Wagehälse als große Staatsmänner!“
Während die russischen Verschwörer noch mit dem Ausbau ihrer verräterischen Beziehungen zu den Vertretern Deutschlands und Japans beschäftigt waren, begann bereits eine neue Phase der Geheimoffensive gegen die Sowjetunion: man ging vom Verrat zum Terror über.
Im April 1934 meldete sich ein Ingenieur namens Bojarschinow im Büro des Bauleiters des außerordentlich wichtigen Kusnezk-Kohlenbeckens in Sibirien. Er fühlte sich durch seltsame Vorgänge in seiner Abteilung beunruhigt. In der letzten Zeit waren auffallend viel Unfälle, Wetterbrände und Maschinenschäden vorgekommen. Bojarschinow befürchtete Sabotage.
Der Bauleiter dankte dem Ingenieur für seine Mitteilungen. „Ich werde diese Angaben an die richtige Stelle weiterleiten“, sagte er. „Inzwischen bewahren Sie strengstes Stillschweigen.“
Der Bauleiter war der deutsche Spion und Chef der trotzkistischen Sabotageorganisation in Sibirien, Alexei Schestow.
Einige Tage später wurde Bojarschinows Leiche in einem Graben gefunden. Er war auf dem Heimweg an einer einsamen Stelle der Landstraße unter die Räder eines in raschem Tempo fahrenden Lastwagens geraten. Der Chauffeur des Lastwagens war ein berufsmäßiger Terrorist namens Tscherepuchin. Schestow hatte ihm den Auftrag erteilt, Bojarschinow zu ermorden, und ihm 15000 Rubel dafür bezahlt.[57]
Im September 1934 unternahm W.M. Molotow, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der UdSSR, eine Inspektionsreise durch die sibirischen Bergwerks- und Industriegebiete. Auf der Rückfahrt von einem Bergwerk im Kusnezkbecken drehte der Wagen plötzlich von der Straße ab und rollte einen steilen Abhang hinunter. Knapp vor dem Rand einer Schlucht kippte das Auto um. Molotow und seine Begleiter kamen mit dem Schrecken und leichten Quetschungen davon. Sie waren mit knapper Not dem Tod entgangen.
Der Garagenleiter des Ortes, Valentin Arnold, hatte den Wagen gelenkt. Arnold war Mitglied der trotzkistischen Terrororganisation. Schestow hatte ihn mit der Ermordung Molotows beauftragt; es war Arnolds Absicht gewesen, einen Autounfall herbeizuführen und sein eigenes Leben bei dem Attentat zu opfern. Aber im letzten Moment verlor er die Nerven und brachte das Auto kurz vor der Stelle, wo der Unfall sich ereignen sollte, zum Stehen.
Im Herbst 1934 waren die Terrorgruppen der Rechten und Trotzkisten in allen Teilen der Sowjetunion am Werk. Diesen Terrorgruppen gehörten ehemalige Sozialrevolutionäre und Menschewiki, Berufsmörder und frühere Agenten der zaristischen Ochrana an. In der Ukraine und in Bjelorußland, in Georgien und Armenien, in Usbekistan, Aserbaidshan und den Küstenländern des Fernen Ostens wurden sowjetfeindliche Nationalisten und Faschisten für den terroristischen Apparat angeworben. In vielen Orten stand die Tätigkeit dieser Gruppen unter der direkten Aufsicht nazistischer und japanischer Agenten.
Die Namen der Sowjetführer, deren Ermordung beschlossene Sache war, wurden in einer Liste zusammengefaßt. An der Spitze dieser Liste stand Josef Stalin. Es folgten Klementi Woroschilow, W. M. Molotow, Sergei Kirow, Lasar Kaganowitsch, Andrei Shdanow, Wjatscheslaw Menschinski, Maxim Gorki und Valerian Kuibischew.
Leo Trotzki wies in regelmäßigen Schreiben an die Terroristen immer wieder auf die dringende Notwendigkeit hin, die sowjetischen Führer zu beseitigen. Eine dieser Botschaften erreichte Trotzkis ehemaligen Leibgardisten Ephraim Dreitzer im Oktober 1934. Die Worte waren mit unsichtbarer Tinte auf den Rand einer deutschen Filmzeitschrift geschrieben, die Dreitzer von seiner Schwester überbracht wurde. Sie hatte die Zeitschrift in Warschau von einem trotzkistischen Kurier erhalten. Trotzkis Botschaft lautete:
„Lieber Freund! Verbreite, daß wir heute vor folgenden Hauptaufgaben stehen:
1. Stalin und Woroschilow sind zu beseitigen.
2. Wir müssen die Organisierung von Zellen in der Roten Armee in Angriff nehmen.
3. Im Kriegsfall muß jeder Rückschlag und die dadurch verursachte Verwirrung für den Machtkampf ausgenützt werden.“
Trotzki hatte diese Botschaft mit seinem Geheimnamen „Starik“ (alter Mann) unterzeichnet.
In Moskau gelang es den Verschwörern, durch langwierige Beobachtungen festzustellen, welchen Weg der Wagen des Volkskommissars für Landesverteidigung Woroschilow zu nehmen pflegte. Mehrere Tage warteten die Terroristen, mit Revolvern bewaffnet, in der Frunse-Straße, die das Auto Woroschilows fast täglich passierte. Aber der Wagen hatte stets ein rasches Tempo, und die Terroristen gelangten zu dem Ergebnis, daß es sinnlos wäre, auf ein rasch fahrendes Auto zu schießen.
Die wiederholten Versuche, Stalin zu ermorden, verliefen ebenso erfolglos. Ein trotzkistischer Terrorist erhielt den Auftrag, Stalin bei einer wichtigen Parteikonferenz in Moskau zu erschießen. Es gelang ihm, sich in die Versammlung einzuschleichen, aber er konnte nicht bis in die Nähe des Sowjetführers vordringen. Ein anderes Mal feuerten Terroristen aus weitreichenden Gewehren Schüsse gegen ein Motorboot ab, in dem Stalin eine Küstenfahrt auf dem Schwarzen Meer unternahm. „Schade!“ sagte Leo Kamenew, als der Terrorist Iwan Bakajew über einen mißlungenen Mordanschlag auf Stalin Bericht erstattete. „Aber wir wollen hoffen, daß wir nächstes Mal mehr Erfolg haben“[58]
Trotzki verlor allmählich die Geduld. Der Tonfall seiner nach Rußland gerichteten Schreiben änderte sich. Er machte seinen Anhängern heftige Vorwürfe: sie seien „die ganze Zeit nur mit organisatorischen Vorbereitungen und Beratungen“ beschäftigt und hätten noch „nichts Konkretes“ geleistet. Er entsandte seine eigenen Spezialagenten in die Sowjetunion, um der terroristischen Tätigkeit einen energischen Auftrieb zu geben. Diese Agenten waren russische Emigranten oder deutsche Trotzkisten.
Sie reisten mit falschen Pässen, die ihnen von Mitverschworenen in der Sowjetdiplomatie oder von der deutschen Militärspionage und der Gestapo zur Verfügung gestellt wurden.
Als erster Spezialagent traf ein deutscher Trotzkist namens Nathan Lurie in Rußland ein. Ihm folgten Konon Berman-Jurin und Fritz David alias Ijja-David Krugljanski. Im März 1933 sandte Trotzki zwei weitere Agenten: Valentin Olberg und Moische Lurie alias Alexander Emel (Moische und Nathan Lurie waren nicht miteinander verwandt).
Vor seiner Abreise aus Berlin erhielt Nathan Lurie die Anweisung, in Moskau die Instruktionen des deutschen Ingenieurs und Architekten Franz Weitz zu befolgen, der damals in der Sowjetunion beschäftigt war. Franz Weitz gehörte nicht der trotzkistischen Bewegung, sondern der Nationalsozialistischen Partei an. Er war von Heinrich Himmler, dem Leiter der Gestapo, in geheimer Mission nach Sowjetrußland geschickt worden. Himmler hatte Weitz den Auftrag erteilt, in Zusammenarbeit mit dem terroristischen trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrum in der Sowjetunion Terror und Sabotage zu betreiben.
Als einer von Sinowjews Anhängern sein Befremden über diese direkte Verbindung mit einem Naziagenten äußerte, antwortete Sinowjew: „Was stört Sie daran? Sie sind Historiker. Sie kennen den Fall Bismarck-Lassalle; Sie wissen, daß Lassalle seine Beziehung zu Bismarck im Interesse der Revolution auszunützen suchte. Ebensogut können wir heute von Himmler Gebrauch machen.“
Kurz vor ihrer Abreise aus Berlin wurden die Sonderemissäre Konon Berman-Jurin und Fritz David zu Trotzki befohlen. Die Konferenz fand gegen Ende November 1932 in Kopenhagen statt. Konon Berman-Jurin berichtete später darüber:
„Ich kam zweimal mit ihm (Trotzki) zusammen. Zunächst fragte er mich über meine frühere Arbeit aus. Dann ging er auf die Lage in Sowjetrußland über. Trotzki sagte: ‚Das Hauptproblem ist Stalin. Stalin muß physisch vernichtet werden.’ Andere Kampfmethoden seien derzeit unwirksam. Für diesen Zweck seien Leute erforderlich, die alles wagen, die bereit sind - so drückte er sich aus -, ihr Leben der geschichtlichen Aufgabe zu opfern. Am Abend setzten wir unsere Unterhaltung fort. Ich fragte ihn, wie der individuelle Terrorismus mit dem Marxismus zu vereinbaren sei. Trotzki antwortete, solche Probleme vertrügen keine dogmatische Behandlung. Marx habe die in der Sowjetunion entstandene Lage nicht voraussehen können. Es sei übrigens notwendig, außer Stalin auch Kaganowitsch und Woroschilow zu ermorden …
Während unseres Gespräches ging er nervös im Zimmer auf und ab. Aus seinen Äußerungen über Stalin sprach ein maßloser Haß … Er sagte, das Attentat sollte möglichst in einer Plenarsitzung oder im Kongreß der Komintern stattfinden, damit der Schuß von einer großen Versammlung gehört werde. Das Echo dieses Schusses werde weit über die Grenzen der Sowjetunion hinausdringen … Es werde ein geschichtliches Ereignis von internationaler politischer Bedeutung sein.“
Das terroristische trotzkistisch-sinowjewistische Zentrum sollte der Sowjetregierung den ersten schweren Schlag zufügen. Als erstes Opfer war der Parteisekretär Sergei Kirow, einer der engsten Mitarbeiter Stalins, ausersehen …
Anfang November 1934 sandte Sinowjew, der sich damals in Moskau aufhielt, seinen Anhänger Bakajew nach Leningrad, um eine Überprüfung der dortigen terroristischen Zellen vorzunehmen.
Die Leningrader Terroristen, die schon des öfteren versucht hatten, an Kirow heranzukommen, empfingen Sinowjews Abgesandten nicht gerade mit Begeisterung. „Also, Grigori Jewsejewitseh hat kein Vertrauen zu uns“, sagte einer der Berufsschützen. „Er schickt Leute her, die unsere Stimmung und unsere Arbeit prüfen sollen. Na schön, uns kann man nicht so leicht beleidigen!“
Ein aus sieben Terroristen bestehender Ausschuß der Leningrader terroristischen Organisation machte Bakajew mit dem Stand der Dinge bekannt. Man berichtete ihm, daß der Weg, den Kirow täglich von seiner Wohnung zu seinem Büro im Smolny-Institut zurücklegte, ständig von Posten bewacht wurde. Dann stellte man ihm den zukünftigen Mörder vor: die Wahl war auf Leonid Nikolajew gefallen, einen blassen, mageren dreißigjährigen Mann, der in seinem früheren Beruf als Buchhalter Unregelmäßigkeiten begangen hatte und deshalb entlassen worden war. Auch aus dem Komsomol (Kommunistischer Jugend verband) war er wegen allgemeiner Unzuverlässigkeit ausgeschlossen worden.
Nikolajew setzte Bakajew seine Pläne auseinander. Er beabsichtigte, Kirow entweder in der Nähe seiner Wohnung oder im Smolny-Institut zu erschießen. Er habe bereits versucht, eine Unterredung mit Kirow zu erwirken, bis jetzt sei es ihm aber nicht gelungen.
Bakajew wiederholte die Instruktionen, die Sinowjew ihm mitgegeben hatte:
„Es ist die Hauptaufgabe der Terrororganisation, ihre Arbeiten in größter Heimlichkeit zu betreiben, um jegliche Kompromittierung der Bewegung zu vermeiden … Im Falle eines Verhörs ist jede Verbindung mit der Organisation konsequent abzustreiten. Wenn man Ihnen terroristische Betätigung vorwirft, dann müssen Sie mit dem größten Nachdruck protestieren und darzulegen versuchen, daß Terror mit den Ansichten eines bolschewistischen Marxisten unvereinbar ist.“
Sinowjew war mit der Entwicklung in Leningrad zufrieden. Er und Kamenew erwarteten mit Zuversicht die baldige erfolgreiche Ausführung des Attentats auf Kirow. Sie glaubten, daß dieser Terrorakt bei der Regierung Verwirrung hervorrufen und im ganzen Lande ähnliche Angriffe gegen führende Persönlichkeiten auslösen würde. Kamenew bemerkte: „Köpfe haben die sonderbare Eigenschaft, nicht nachzuwachsen.“
Am l. Dezember 1934 um 4 Uhr 27 verließ Sergei Kirow sein Büro im Smolny-Institut. Das Zentralkomitee hatte damals den Beschluß gefaßt, die Brotrationierung aufzuheben, und Kirow sollte in einem anderen Zimmer einen Bericht über diese Frage erstatten. Als er den marmorgetäfelten Korridor entlang schritt, stürzte plötzlich ein Mann aus einem Seitengang und gab einen Schuß gegen seinen Hinterkopf ab. Um 4 Uhr 30 war Sergei Kirow tot.
Der Mörder hieß Leonid Nikolajew. Er wurde ergriffen, bevor er die Waffe gegen sich selbst richten konnte.
Am 28. Dezember 1934 stand Leonid Nikolajew vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR. Nikolajew sagte aus: „Als ich Kirow erschoß, dachte ich: unser Schuß wird das Signal für eine Explosion, für eine allgemeine Revolte gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion und gegen die Sowjetregierung sein.“
Das Militärkollegium verurteilte Nikolajew zum Tode. Nikolajew hatte Sinowjew, Kamenew und die anderen an dem Attentatsplan beteiligten Führer des terroristischen trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrums mit keinem Worte bloßgestellt. Aber dis Sowjetregierung wußte natürlich, daß das Mordkomplott von einer weitaus komplizierteren und gefährlicheren Organisation als Nikolajews kleiner Terroristengruppe geplant und vorbereitet worden war.
Zwei Wochen nach Abschluß des Verfahrens gegen Nikolajew standen Grigori Sinowjew, Leo Kamenew und einige ihrer politischen Freunde, darunter Bakajew, vor einem Leningrader Gericht. Die Anklage lautete auf Beteiligung an der Ermordung Kirows. Sinowjew und Kamenew hielten während des ganzen Prozesses konsequent eine im vorhinein vereinbarte Linie. Sie gaben nur das zu, was die Sowjetregierung bereits durch eigene Nachforschungen festgestellt hatte; sie heuchelten aufrichtige Reue und „gestanden“, daß die von ihnen geförderte Tätigkeit der politischen Opposition „eine für sowjetfeindliche Handlungen günstige Atmosphäre geschaffen“ habe. Sie bezeichneten sich selbst als die Führer des „Moskauer Zentrums“ der politischen Opposition und nahmen als Leiter der umstürzlerischen Bewegung, die den Boden für dieses Verbrechen bereitet hatte, die „moralische Verantwortung“ auf sich. Dagegen behaupteten sie mit größtem Nachdruck, von den Absichten der Attentäter keinerlei Kenntnis gehabt zu haben.
„Ich bin gewohnt, mich als Führer zu fühlen“, erklärte Sinowjew, „und ich hätte selbstverständlich von allem gewußt … Dieser verabscheuungswürdige Mord wirft ein so schlechtes Licht auf unsere früheren Kämpfe gegen die Partei, daß ich der Partei das Recht zugestehen muß der ehemaligen parteifeindlichen Sinowjew-Gruppe die politische Verantwortung für den an Kirow begangenen Mord zuzuschieben.“
Kamenew befolgte die gleiche Taktik. „Ich muß sagen, daß ich durchaus kein Feigling bin, aber ich habe nie daran gedacht, Waffen zu gebrauchen“, sagte er. „Ich habe immer auf den Augenblick gewartet, wo das Zentralkomitee sich gezwungen sehen wird, mit uns zu verhandeln und uns Platz zu machen.“
Der Trick gelang. Eine direkte Beteiligung Sinowjews und Kamenews an dem Komplott konnte nicht nachgewiesen werden. Aber sie wurden aufrührerischer Umtriebe gegen die Sowjetregierung überführt. In der Urteilsverkündung hieß es:
„Der Prozeß hat keinerlei Tatsachen zu Tage gefördert, die als ausreichender Grund angesehen werden könnten, die Tätigkeit der Mitglieder des Moskauer Zentrums im Zusammenhang mit der Ermordung des Genossen S. M. Kirow am l. Dezember 1934 als direkte Aufmunterung zu diesem abscheulichen Verbrechen anzusehen; nichtsdestoweniger hat dieser Prozeß deutlich erwiesen, daß die Mitglieder des konterrevolutionären Zentrums in Moskau über die terroristische Gesinnung der Leningrader Gruppe unterrichtet waren und diese Gesinnung gefördert haben …“
Sinowjew und Kamenew wurden wegen konspirativer Betätigung zu zehn, beziehungsweise fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Prozeß hatte nur die oberste Schicht des Verschwörerapparates aufgedeckt.
Einige merkwürdige Tatsachen, die dem Leningrader Gericht verborgen blieben, verdienen besondere Beachtung:
Sinowjew und Kamenew wurden von vier Agenten der sowjetischen Geheimpolizei ins Hauptquartier der NKWD gebracht.[59] Diese Agenten waren: der Leiter der politischen Geheimabteilung der NKWD Moltschanow, der Chef der Exekutivabteilung Pauker, der stellvertretende Chef der Exekutivabteilung Wolowitsch und der stellvertretende Leiter der NKWD Bulanow.
Bei der Verhaftung Sinowjews und Kamenews benahmen sich die vier NKWD-Agenten sehr merkwürdig. Nicht genug, daß sie es unterließen, die Wohnungen der beiden Angeklagten nach belastendem Material zu durchsuchen - sie gestatteten Sinowjew und Kamenew sogar, eine Anzahl kompromittierender Dokumente zu vernichten…
Es ist aufschlußreich, daß Moltschanow und Bulanow dem Verschwörerapparat der mit Trotzki sympathisierenden Rechten als geheime Mitglieder angehörten, während Pauker und Wolowitsch deutsche Agenten waren.
G. G. Jagoda, der Vorsitzende der NKWD, hatte diese Leute eigens für die Verhaftung Sinowjews und Kamenews ausgesucht.
ANMERKUNGEN
Trotzki lebte damals in St. Palais, einem kleinen Dorf am Fuße der Pyrenäen in Süd Frankreich. Im Juli hatte er Prinkipo verlassen. (Er übersiedelte nach kurzer Zeit mit seinem ganzen Anhang von Leibgardisten und „Sekretären“ in eine sorgfältig bewachte Villa bei Paris.)
Zu der Zeit, als Trotzki nach Frankreich übersiedelte, kämpften die französischen Reaktionäre und Faschisten verzweifelt gegen den Abschluß eines kollektiven Sicherheitsbündnisses zwischen Frankreich und der Sowjetunion. An der Spitze der französischen Regierung, die Trotzki die Einreise und die Errichtung seines antisowjetischen Hauptquartiers in Frankreich gestattete, stand Edouard Daladier, dessen im Münchener Abkommen gipfelnde Befriedungspolitik wesentlich dazu beitrug, Frankreich und andere antifaschistische Völker Europas an die Nazis auszuliefern. Der radikale Abgeordnete Henri Guernot befürwortete persönlich Trotzkis Gesuch… Innenminister Camille Chautemps, jener fragwürdige französische Politiker, der an der Niederschlagung der Untersuchung gegen die faschistische Verschwörergruppe der Cagoulards beteiligt war und später stellvertretender Premierminister im ersten Petain-Kabinett wurde, besorgte alles weitere. Zu Trotzkis zahlreichen, einflußreichen Freunden und Anhängern in Frankreich gehörten: der kommunistische Renegat und Naziagent Jacques Dorlot, der ehemals sozialistische Professor Marcel Deat, der Naziagent und nach dem Zusammenbruch Frankreichs einer der führenden Kollaborationisten wurde.
Trotzkis Anwesenheit in Frankreich wurde auch von den sowjetfeindlichen Elementen des französischen Geheimdienstes und der Geheimpolizei gebilligt, Im April 1937 erklärte Trotzki bei der Prozeßverhandlung in Mexiko: „… Monsieur Thome und Monsieur Cado, der Generalsekretär der Polizei und Präfektur des Departements Charente Inferieure - alle Spitzen der Polizei waren über meine Situation genau orientiert. Die Geheimagenten der Polizei wußten von allen meinen Schritten.“
Das Geld, das der Mörder Bojarschinows von Schestow erhielt, stammte aus einem Geheimfond von 164600 Rubel, die trotzkistische Terroristen unter Schestows Anleitung aus der Staatsbank von Ansherka entwendet hatten. Der Fond war für die Finanzierung von Sabotage- und Terrorakten in Sibirien bestimmt.
Die Atmosphäre, die in den Kreisen des terroristischen trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrums herrschte, erinnerte trotz der „politischen“ Fassade an „New York’s Murder Inc.“ und ähnliche Verbrecherbanden.
Bakajew, ein ehemaliger politischer Mitarbeiter Sinowjews im Petrograder Sowjet, hatte die Aufgabe, die Attentäter des terroristischen Zentrums in Schach zu halten. Sinowjew hatte ihn beauftragt, jeden, der die Organisation zu verraten drohte, zum Schweigen zu bringen. Als um die Mitte des Jahres 1934 ein Attentat auf Stalin mißlang, weil der für die Aufgabe ausersehene Mörder Bogdan im entscheidenden Augenblick die Nerven verlor, unternahm es Bakajew, Bogdan unschädlich zu machen. Er besuchte ihn in seiner Wohnung, wo er die Nacht verbrachte. Am Morgen lag Bogdan mit einer Kugel im Kopf auf dem Fußboden seines Wohnzimmers, neben ihm ein Revolver. Bakajew hatte ihn gezwungen, einen Brief zu hinterlassen, in dem er erklärte, er habe wegen der „Verfolgung“ der trotzkistisch-sinowjewistischen Opposition durch die Sowjetregierung Selbstmord begangen.
Ein Mitglied des terroristischen trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrums, Isak Reingold, bezeugte später, daß „sowohl Sinowjew als auch Kamenew“ beschlossen hatten, Bakajew nach der Machtergreifung eine leitende Funktion in der GPU zu übertragen. Unter Benutzung des GPU-Apparates sollte Bakajew dabei behilflich sein, „sowohl die Beamten des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten und der GPU, die möglicherweise über Einzelheiten der Verschwörung orientiert waren, als auch alle, die Terrorakte gegen Stalin und seine Umgebung durchgeführt hatten, zu beseitigen und zu töten. Die trotzkistisch-sinowjewistische Organisation wollte durch Bakajew die Spuren ihrer Tätigkeit verwischen und ihre eigenen, in diese Angelegenheit verwickelten Attentäter erledigen.“
Ende 1934 trat die NKWD (Abteilung für Öffentliche Sicherheit) an die Stelle der GPU. Die NKWD war fortan die für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit der UdSSR verantwortliche Behörde.
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