Die große Verschwörung

Drittes Buch - Die fünfte Kolonne in Rußland

XVIII. MORD IM KREML

1. Jagoda

Im Mai 1934, sechs Monate vor der Ermordung Kirows, erlag der Präsident der GPU, Wjatscheslaw R. Menschinski, der schon lange Zeit gekränkelt hatte, einem Herzanfall. An seine Stelle trat der 43jährige Vizepräsident der GPU, G. G. Jagoda, ein kleiner, ruhiger, zielbewußter Mann mit zurückweichendem Kinn und kleinem Schnurrbart.

Jagoda war Geheimmitglied des Blocks der Rechten und Trotzkisten. Er hatte sich der Verschwörung 1929 im Gefolge der Rechtsopposition angeschlossen, nicht weil er an Bucharins oder Trotzkis Programm glaubte, sondern weil er in den Vertretern der Opposition die künftigen Träger der Macht sah. Jagoda wollte auf der Seite der Sieger sein. Er selbst sagte darüber:

„Ich verfolgte den Verlauf der Kämpfe mit großer Aufmerksamkeit, da ich von vornherein beschlossen hatte, mich der siegreichen Partei anzuschließen… Als die Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Trotzkisten begannen, konnte man noch nicht voraussagen, wer den Kampf gewinnen würde: die Trotzkisten oder das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Das war zumindest meine Ansicht, nach der ich mich bei der Durchführung der Strafmaßnahmen als Vizepräsident der GPU richtete. Ich vermied es, den Zorn der Trotzkisten zu erregen. Wenn ich Trotzkisten in die Verbannung schickte, geschah es unter solchen Bedingungen, daß sie ihre Tätigkeit auch im Exil fortsetzen konnten.“

Die Rolle, die Jagoda spielte, war anfänglich nur den drei obersten Führern der Rechten, Bucharin, Rykow und Tomski bekannt. Nach dem Zusammenschluß der Rechten und Trotzkisten im Jahre 1932 wurden auch Pjatakow und Krestinski eingeweiht.

Als Vizepräsident der GPU war Jagoda in der Lage, die Verschwörer vor Bloßstellungen und Verhaftungen zu bewahren. „Einige Jahre lang“, erklärte er später, „tat ich mein möglichstes, um die Organisation, besonders das Zentrum, zu decken.“ Jagoda ernannte Mitglieder des Blocks der Rechten und Trotzkisten zu Spezialagenten der GPU. Auf diese Weise konnte sich eine Anzahl ausländischer Geheimagenten in die sowjetische Geheimpolizei einschleichen und unter Jagodas Schutz Spionage für die betreffenden Regierungen betreiben. Die deutschen Agenten Pauker und Wolowitsch, die bei der Verhaftung Sinowjews und Kamenews zugegen waren, wurden von Jagoda persönlich in die GPU eingestellt. Jagoda äußerte später in bezug auf ausländische Spione: „Ich sah in ihnen eine wertvolle Hilfskraft für die Durchführung der Verschwörungspläne; insbesondere konnten sie sich bei der Aufrechterhaltung der Verbindung mit den ausländischen Geheimdiensten nützlich erweisen.“

Im Jahre 1933 wurde der führende Organisator des terroristischen trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrums, Iwan Smirnow, plötzlich von Agenten der Sowjetregierung festgenommen. Die Verhaftung kam völlig unerwartet und konnte von Jagoda nicht verhindert werden. Unter dem Vorwand, Smirnow verhören zu wollen, begab sich Jagoda in seine Zelle und setzte ihm genau auseinander, wie er alle weiteren Fragen zu beantworten habe.

Im Jahre 1934, kurz vor der Ermordung Kirows, wurde der Terrorist Leonid Nikolajew von Agenten der GPU in Leningrad aufgegriffen. In seinen Taschen fand man einen Revolver und einen Plan, auf dem der von Kirows Wagen täglich zurückgelegte Weg eingezeichnet war. Als Jagoda von der Verhaftung Nikolajews hörte, gab er dem stellvertretenden Leiter der Leningrader GPU, Saporoschetz, den Auftrag, den Terroristen ohne Verhör zu entlassen. Saporoschetz tat, was ihm befohlen wurde, er war einer von Jagodas Leuten.

Einige Wochen später wurde Kirow von Nikolajew ermordet. Dieser Mord war nur einer von vielen, die der Block der Rechten und Trotzkisten mit direkter Unterstützung Jagodas zur Ausführung brachte.

Hinter der Maske des ruhigen Beamten, die Jagoda äußerlich zur Schau trug, verbarg sich ein grausamer Intrigant von ungewöhnlichem Ehrgeiz. Da der Block der Rechten und Trotzkisten den Schutz des Vizepräsidenten der GPU von Tag zu Tag dringender brauchte, begann er sich als zentrale Figur und wichtigste Persönlichkeit der großen Verschwörung zu fühlen. Jagoda träumte davon, ein russischer Hitler zu werden. Nach der Lektüre von „Mein Kampf“ sagte er zu seinem ergebenen Schergen und Sekretär Pawel Bulanow; „Es ist der Mühe wert, dieses Buch zu lesen.“ Besonderen Eindruck machte ihm die Tatsache, daß Hitler vom Gefreiten zum Staatsoberhaupt aufgestiegen war. Auch Jagoda hatte seine Laufbahn als Gefreiter der russischen Armee begonnen.

Jagoda hatte eine bestimmte, sehr persönliche Vorstellung von der Regierung, die nach Stalins Sturz zur Herrschaft gelangen sollte. Er erwartete eine Nachbildung des deutschen Naziregimes. Jagoda sah sich selbst als Führer, während Rykow an Stelle Stalins Sekretär der neuorganisierten Partei und Tomski Leiter der Gewerkschaften werden sollte, für die Jagoda eine strenge militärische Kontrolle nach dem Muster der deutschen Arbeitsfront vorsah. Aus dem „Philosophen“ Bucharin wollte er einen russischen „Dr. Goebbels“ machen.

Jagoda war sich noch nicht darüber im klaren, ob er Trotzki die Rückkehr nach Rußland gestatten würde. Das hänge von den Umständen ab, erklärte er seinem Sekretär. Inzwischen sei er bereit, sich die Verhandlungen Trotzkis mit Deutschland und Japan zunutze zu machen. Der Staatsstreich müsse zeitlich mit dem Ausbruch eines Krieges gegen die Sowjetunion zusammenfallen.

„Wir werden alle Mittel anwenden müssen, um das Gelingen dieses Putsches sicherzustellen - Waffengewalt, Provokation und sogar Gift“, meinte Jagoda. „Es gibt Zeiten, wo man langsam und mit größter Vorsicht handeln muß, aber manchmal sind rasche, plötzliche Entscheidungen notwendig.“

Jagoda billigte den Beschluß des Blocks der Rechten und Trotzkisten, sich im Kampf gegen die Sowjetregierung terroristischer Methoden zu bedienen. Der Beschluß wurde ihm durch den Beamten des Kreml-Sekretariates, A. S. Jenukidse, übermittelt, der die Terrororganisationen der Rechten leitete. Jagoda hatte nur ein Bedenken: die von den Verschwörern angewandten Methoden schienen ihm allzu primitiv und darum gefährlich. Jagoda versuchte, an Stelle der traditionellen. Bomben, Messer und Kugeln, feinere Mittel ausfindig zu machen.

Zuerst experimentierte er mit Giften. Er beschäftigte mehrere Chemiker in einem Geheimlaboratorium. Es war sein Ziel, ein Mordverfahren auszuarbeiten, das keine Spuren hinterließ. Er nannte das: „Mord mit Garantie“.

Aber dazu reichten auch die Gifte nicht aus. Schließlich dachte sich Jagoda eine Spezialtechnik aus, die er den Führern des Block’s der Rechten und Trotzkisten als ideale Mordwaffe empfahl. „Es ist ganz einfach“, sagte er. „Jemand wird von selbst krank oder er leidet schon seit einiger Zeit an einer Krankheit. Seine Umgebung gewöhnt sich naturgemäß an die Vorstellung, daß der Patient eines Tages sterben oder gesund werden muß. Der behandelnde Arzt hat den guten Willen, die Genesung oder den Tod des Kranken zu beschleunigen … Nun also - alles weitere ist eine Frage der Technik.“ Es kam nur darauf an, den richtigen Arzt zu finden.

2. Die Ermordung Menschinskis

Der erste Arzt, den Jagoda für seine ungewöhnlichen Mordpläne mißbrauchte, war Dr. Leo Lewin, ein nachgiebiger, korpulenter Mann in mittleren Jahren, der mit Vorliebe seine politische Neutralität betonte. Dr. Lewin war Jagodas Hausarzt. Aber ausschlaggebend war die Tatsache, daß Dr. Lewin zu den Ärzten des Kreml gehörte. Viele prominente Persönlichkeiten der Sowjetregierung waren bei ihm in Behandlung, darunter auch Jagodas Vorgesetzter, der Präsident der GPU Wjatscheslaw Menschinski.

Jagoda begann, Dr. Lewin mit Liebenswürdigkeiten zu überschütten. Er schickte ihm Importweine und verschiedene andere Geschenke und Blumen für seine Frau. Er stellte ihm kostenlos einen Landsitz zur Verfügung. Wenn Dr. Lewin verreiste, erlaubte ihm Jagoda, im Ausland gekaufte Gegenstände ohne Entrichtung des üblichen Zolles nach Rußland einzuführen. Diese ungewohnten Aufmerksamkeiten von seiten eines so einflußreichen Patienten waren für den Arzt schmeichelhaft und zugleich ein wenig beunruhigend.

Jagoda erreichte auf diese Weise, daß der arglose Dr. Lewin verschiedene Dinge annahm, die als Bestechung gewertet werden konnten. Außerdem hatte er sich verschiedener geringfügiger Vergehen gegen das sowjetische Gesetz schuldig gemacht. Und nun rückte Jagoda mit der Sprache heraus. Er gab sich Dr. Lewin als Führer einer geheimen Oppositionsbewegung zu erkennen, die demnächst in Sowjetrußland an die Macht gelangen werde. Die Verschwörer, sagte Jagoda, könnten Dr. Lewins Dienste gut gebrauchen. Bestimmte Sowjetführer müßten aus dem Wege geräumt werden - einige von ihnen seien Dr. Lewins Patienten.

„Vergessen Sie nicht“, erklärte Jagoda dem erschrockenen Arzt, „daß Sie mir gehorchen müssen, Sie können mir nicht ausweichen. Wenn ich Ihnen einmal mein Vertrauen geschenkt habe bleibt Ihnen nichts weiter übrig, als dieses Vertrauen zu würdigen und meine Aufträge auszuführen. Sie können niemanden um Rat fragen. Niemand wird Ihnen glauben. Man wird nicht Ihnen glauben, sondern mir. Aber jetzt wollen wir nicht mehr über dieses Thema sprechen; denken Sie zu Hause darüber nach, ich werde Sie in einigen Tagen rufen lassen.“

Dr. Lewin beschrieb später, in welche Stimmung ihn Jagodas Worte versetzten:

„Ich brauche die psychologische Reaktion nicht zu schildern. Es ist wohl klar, wie furchtbar es für mich war, das alles hören zu müssen. Und dann die unaufhörlichen Seelenqualen… Er sagte noch zu mir: ‚Sie wissen, wer zu Ihnen spricht, welche Institution ich leite’… Er wiederholte, daß ich durch eine Weigerung mich und meine Familie zugrunde richten würde. Es schien mir, daß ich keinen Ausweg hatte, daß ich ihm gehorchen mußte.“

Dr. Lewin führte Jagoda einen anderen Arzt zu, den Menschinski ebenfalls häufig konsultierte. Es war Dr. Ignati N. Kasakow, dessen höchst ungewöhnliche Heilmethoden den Ärztekreisen der Sowjetunion zu Beginn der dreißiger Jahre Anlaß zu erhitzten Debatten gegeben hatten.

Dr. Kasakow behauptete, mit Hilfe einer von ihm erfundenen, so gut wie unfehlbaren Spezialtechnik, die er „Lysatotherapie“ nannte, eine ganze Reihe von Krankheiten heilen zu können. Der Präsident der GPU, Menschinski, der an Angina pectoris und Bronchialasthma litt, hatte zu Kasakows Methode großes Vertrauen und ließ sich regelmäßig von ihm behandeln.[60]

Dr. Lewin besuchte Dr. Kasakow in Jagodas Auftrag. Er sagte zu seinem Kollegen: „Menschinski ist ein lebender Leichnam. Sie vergeuden Ihre Zeit.“

Dr. Kasakow blickte Lewin fragend und erstaunt an. „Ich muß ein ernstes Wort mit Ihnen reden“, sagte Dr. Lewin.

„Worüber?“ fragte Dr. Kasakow.

„Über Menschinskis Gesundheitszustand.“ Dr. Lewin kam zur Sache. „Ich hätte Sie für klüger gehalten“, sagte er. „Sie haben mich noch immer nicht verstanden. Es wundert mich, daß Sie Menschinskis Behandlung mit so viel Eifer betreiben und sogar eine Besserung seines Zustandes herbeigeführt haben. Sie hätten ihm keinesfalls erlauben dürfen, seine Arbeit wieder aufzunehmen.“

Dr. Kasakows Verwunderung und Entsetzen wuchs, als Dr. Lewin fortfuhr:

„Sie müssen sich doch darüber im klaren sein, daß Menschinski eigentlich schon eine Leiche ist. Dadurch, daß Sie ihn wieder arbeiten lassen, erregen Sie den Unwillen Jagodas. Menschinski steht Jagoda im Wege, und Jagoda hat ein Interesse daran, ihn so rasch wie möglich zu beseitigen. Jagoda ist ein Mann, der vor nichts zurückschreckt.“ Dr. Lewin fügte hinzu:

„Nicht ein Wort hierüber zu Menschinski! Ich warne Sie: wenn Sie Menschinski etwas erzählen, wird Jagoda Sie zugrunde richten. Sie können sich nicht vor ihm verstecken. Er wird Sie finden, selbst wenn Sie unter dem Erdboden verschwinden.“

Am Nachmittag des 6. November 1933 wurde Dr. Kasakow telephonisch aufgefordert, Menschinski sofort zu besuchen. Als der Arzt die Wohnung des GPU-Präsidenten betrat, schlug ihm ein scharfer Terpentin- und Farbgeruch entgegen. Nach wenigen Minuten hatte er selbst Atembeklemmungen. Einer der Sekretäre teilte ihm mit, daß das Haus frisch gemalt worden sei. Man habe der Farbe eine „besondere Substanz“ beigemischt, „damit die Malerei rascher trocknet“. Diese „besondere Substanz“ war die Ursache des scharfen, durchdringenden Geruches.

Dr. Kasakow begab sich ins obere Stockwerk. Menschinskis Zustand war beunruhigend. Sein Bronchialasthma hatte sich durch das Einatmen der Dünste akut verschlechtert. Er saß zusammengekrümmt im Bett, sein Gesicht und sein Körper waren geschwollen, er konnte kaum flüstern. Dr. Kasakow beobachtete seine Atmung: es war ein qualvolles Röcheln mit dem für einen schweren Anfall von Bronchialasthma charakteristischen Symptom der stark verlangsamten Ausatmung. Dr. Kasakow gab Menschinski sofort eine Injektion. Dann stieß er die Fenster des Zimmers auf und ersuchte den Sekretär, auch die übrigen Türen und Fenster des Hauses zu öffnen. Der Geruch verzog sich allmählich. Dr. Kasakow blieb bei Menschinski, bis der Anfall vorüber war. Dann kehrte er in seine Wohnung zurück.

Er hatte kaum die Haustür geöffnet, als das Telephon läutete. Ein Anruf vom Hauptquartier der GPU: Jagoda wünsche Dr. Kasakow sofort zu sehen. Ein Wagen sei bereits unterwegs.

Jagodas erste Frage unter vier Augen lautete: „Nun, was halten Sie von Menschinskis Gesundheitszustand?“

Der kleine, gepflegte, brünette Mann saß hinter seinem Schreibtisch und beobachtete Dr. Kasakow mit kaltem Blick.

Dr. Kasakow erwiderte, daß die plötzliche Wiederkehr der Asthmaanfälle ein bedenkliches Zeichen sei. Jagoda schwieg eine Weile. Dann fragte er: „Haben Sie mit Dr. Lewin gesprochen?“

Dr. Kasakow bejahte.

Jagoda sprang von seinem Sessel auf und begann, aufgeregt auf und ab zu gehen. Plötzlich blieb er vor Dr. Kasakow stehen. „Warum zögern Sie dann?“ schrie er. „Warum handeln Sie nicht? Warum mischen Sie sich in fremde Angelegenheiten?“.

„Was wollen Sie von mir?“ fragte Dr.Kasakow.

„Wer hat Sie aufgefordert, Menschinski ärztlichen Beistand zu leisten?“ fragte Jagoda. „Sie pfuschen da sinnlos herum. Niemand ist an seinem Weiterleben interessiert. Er steht nur allen im Wege. Ich befehle Ihnen, gemeinsam mit Lewin eine Behandlungsmethode auszuarbeiten, die Menschinskis Tod in kürzester Zeit herbeiführt.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Ich warne Sie, Kasakow: wenn Sie versuchen, sich zu widersetzen, werde ich Mittel und Wege finden, Sie loszuwerden! Sie werden mir nicht entwischen.“

Dr. Kasakow verbrachte die nächsten Tage wie in einem ständigen Alptraum. Mechanisch erledigte er seine Arbeit. Sollte er den Sowjetbehörden Bericht erstatten? Aber wem konnte er sich anvertrauen? Wie sollte er wissen, ob er sich nicht gerade an einen von Jagodas Spitzeln wandte?

Dr. Lewin, der in dieser Zeit häufig mit Kasakow zusammenkam, erzählte ihm von der weitverzweigten unterirdischen Verschwörung gegen das Sowjetregime. Berühmte, einflußreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Jagoda, Rykow und Pjatakow seien an dem Komplott beteiligt; auch ein Teil der Armee habe sich der Geheimbewegung angeschlossen. Wenn Dr. Kasakow Jagoda jetzt einen wertvollen Dienst erweise, so werde Jagoda sich später daran zu erinnern wissen. In der Sowjetunion sei ein unterirdischer Krieg im Gange, und die Ärzte müßten ebenso wie alle anderen Partei ergreifen.

Dr. Kasakow gab schließlich nach. Er teilte Lewin mit, daß er Jagodas Befehl ausführen werde.

Kasakow beschrieb später selbst die Technik, die er und Dr. Lewin bei der Ermordung des Präsidenten der GPU, Wjatscheslaw Menschinski, anwandten.

„Lewin und ich arbeiteten gemeinsam eine Methode aus. Wir machten uns dabei zwei Haupteigenschaften der Eiweißprodukte zunutze. Erstens: die Produkte der hydrolytischen Zersetzung des Eiweißes haben die Eigenschaft, die Wirkung von Medikamenten zu verstärken. Zweitens: Lysate erhöhen die Empfindlichkeit des Organismus. Drittens: wir gingen von dem bei Menschinski vorliegenden besonderen Krankheitsfall, der Verbindung von Bronchialasthma und Angina pectoris, aus. Es ist eine bekannte Tatsache, daß bei Bronchialasthma die sogenannte parasympathische Partie des vegetativen Nervensystems gereizt ist. Man verordnet daher Medikamente, die den entsprechenden, das heißt sympathischen Teil, in diesem Fall die Schilddrüse, anregen. Ein solches Präparat ist der aus der medulla stratum gewonnene Nebennierenextrakt. Die bei Angina pectoris gereizte sympathische Partie beginnt in dem unter dem Halse liegenden Plexus sympathischer Ganglien. Das war unser Ausgangspunkt.

Wir ließen ganz allmählich einen Wechsel in der medikamentösen Behandlung eintreten… Wir mußten eine Anzahl herzstärkender Mittel verwenden - Digitalis, Adonis, Strophantin -, um die Herztätigkeit anzuregen. Diese Medikamente wurden in folgender Reihenfolge verabreicht: zuerst Lysate, mit denen wir nach einer gewissen Zeit aussetzten; dann erhielt der Patient herzstärkende Mittel. Diese Behandlungsmethode führte einen Erschöpfungszustand herbei.“

Menschinski starb in der Nacht zum 10. Mai 1934. Jagoda übernahm an seiner Stelle die Leitung der GPU.

Jagoda erklärte später: „Es ist nicht wahr, daß ich Menschinskis Tod aus egoistischen Motiven herbeigeführt habe. Ich wollte Leiter der GPU werden, aber nicht aus persönlichem Ehrgeiz, sondern im Interesse unserer konspirativen Vereinigung.“

3. Mord mit Garantie

Auf der Mordliste des Blocks der Rechten und Trotzkisten standen die Namen führender Persönlichkeiten der Sowjetregierung: Stalin, Woroschilow, Kirow, Menschinski, Molotow, Kuibischew, Kaganowitsch, Gorki und Shdanow. Alle diese Männer waren von verläßlichen Leuten beschützt. Die Sowjetregierung hatte durch jahrelange bittere Erfahrungen mit den Terroristen gelernt, auf der Hut zu sein. Jagoda wußte das sehr genau, und als der terroristische Organisator der Rechten, Jenukidse, ihm den Beschluß des terroristischen trotzkistisch-sinowjewistischen Zentrums bekanntgab, Sergei Kirow in aller Öffentlichkeit ermorden zu lassen, hatte er zunächst Bedenken. Jagoda selbst sagt darüber:

„Ich gab meiner Befürchtung Ausdruck, daß ein unverhüllter Terrorakt nicht nur mich, sondern die ganze Organisation bloßstellen könnte. Ich schlug Jenukidse eine ungefährlichere Methode vor und erinnerte ihn an den Tod Menschinskis, der mit ärztlicher Hilfe herbeigeführt worden war. Jenukidse erwiderte, daß die Ermordung Kirows in der vorgesehenen Weise erfolgen müsse, daß die Anhänger Trotzkis und Sinowjews bereit seien, den Mord zu begehen, und daß es unsere Pflicht sei, keine Schwierigkeiten zu machen. Übrigens werde demnächst im Zentrum durch eine Diskussion entschieden werden, wer von den Staats- und Parteiführern zuerst durch die sichere Methode des ärztlichen Mordes erledigt werden solle.“

An einem Augusttag des Jahres 1934 wurde der junge Benjamin A. Maximow, ein Geheimmitglied der rechten Opposition, in Jenukidses Büro im Kreml berufen. Maximow hatte 1928 an der damals von Bucharin geleiteten Moskauer „Marxistischen Schule“ studiert und war von Bucharin für die Verschwörung gewonnen worden.

Die Führer der Rechten hatten den intelligenten, skrupellosen jungen Mann sorgfältig ausgebildet und nach Beendigung seiner Studien in verschiedenen Sekretärstellen untergebracht.

Zur Zeit, als Jenukidse ihn zu sich kommen ließ, arbeitete er als persönlicher Sekretär Valerian Kuibischews, der Vorsitzender des Obersten Wirtschaftsrates, Mitglied des Politischen Büros der Kommunistischen Partei und ein intimer Freund Stalins war.

Jenukidse erklärte Maximow: „Die Rechte glaubte früher, den Sturz der Sowjetregierung durch den Zusammenschluß gewisser sowjetfeindlicher Bevölkerungsschichten, besonders der Kulaken, herbeiführen zu können. Jetzt hat sich die Situation geändert… und es ist notwendig, wirkungsvollere Maßnahmen zu ergreif en.“ Jenukidse schilderte die neue konspirative Taktik. In Übereinstimmung mit den Trotzkisten sei die Rechte zu dem Entschluß gelangt, einen Teil ihrer politischen Gegner durch terroristische Mittel aus dem Wege zu räumen. Es bestehe die Absicht, die „Gesundheit der Führer zu untergraben“. Diese Methode, sagte Jenukidse, sei „die zweckmäßigste, weil sie den Schein einer unglücklich verlaufenen Krankheit wahre und daher die Tarnung der terroristischen Aktivität der Rechten“ ermögliche.

„Die Vorbereitungen haben bereits begonnen“, fügte Jenukidse hinzu. Die treibende Kraft sei Jagoda, der den Verschwörern Schutz und Hilfe gewähre. Maximow solle bei der Ermordung seines Vorgesetzten Kuibischew behilflich sein. Den Verschwörern sei bekannt, daß Kuibischew an einer schweren Herzkrankheit leide, und sie hätten die Absicht, aus dieser Tatsache Nutzen zu ziehen.

Maximow, der über die ihm zugedachte Aufgabe ein wenig erschrocken war, hatte gewisse Bedenken. Einige Tage später wurde er neuerlich zu Jenukidse gerufen. Diesmal wurden bereits Einzelheiten erörtert.

Während des ganzen Gesprächs saß ein dritter Mann schweigend in einer Zimmerecke. Er sagte kein Wort, aber Maximow wußte genau, was seine Anwesenheit zu bedeuten hatte: der Mann war Jagoda.

„Wir erwarten folgendes von Ihnen“, sagte Jenukidse. „Erstens sollen Sie ihnen (den Ärzten Jagodas) Gelegenheit verschaffen, häufig und unbehindert zu dem Patienten zu gelangen, so daß in ihren sogenannten ärztlichen Besuchen keine Unterbrechung eintritt. Zweitens müssen Sie im Fall einer akuten Erkrankung oder irgendwelcher Anfälle die Verständigung des Arztes so lange wie möglich hinausschieben; unter keinen Umständen darf ein fremder Arzt zugezogen werden.“

Im Herbst 1934 ging es mit Kuibischews Gesundheit plötzlich bergab. Er fühlte sich sehr schwach und konnte nur ein kleines Arbeitspensum bewältigen.

Dr. Lewin beschrieb später die Technik, die auf Jagodas Befehl bei Kuibischew angewandt wurde:

„Der verletzlichste Teil seines Organismus war das Herz, und so richteten wir unseren Angriff gegen diesen Punkt. Wir wußten, daß Kuibischews Herz schon ziemlich lange in schlechtem Zustand war. Er litt an Myocarditis, einer krankhaften Entartung der Herzgefäße, und leichten Anfällen von Angina pectoris. In solchen Fällen muß das Herz geschont werden; starke stimulierende Mittel sind zu vermeiden, da sie die Herztätigkeit übermäßig steigern und dadurch allmählich eine weitere Schwächung herbeiführen … Wir verabfolgten Kuibischew längere Zeit hindurch ohne Unterbrechung stimulierende Medikamente. Das ging so bis zu seiner Abreise nach Mittelasien. Von Anfang August bis September oder Oktober 1934 injizierten wir ihm bestimmte Hormonpräparate und andere stimulierende Mittel. Diese Behandlung verschlimmerte seine Angina pectoris, die Anfälle wurden häufiger.“

Am 25. Januar 1935 um 2 Uhr nachmittags erlitt Kuibischew In seinem Moskauer Büro im Rat der Volkskommissare einen schweren Herzanfall.

Maximow war bei ihm. Dr. Lewin hatte ihm schon vorher auseinandergesetzt, daß bei einem solchen Anfall vollständige Ruhe angezeigt sei und daß er daher die Pflicht habe, Kuibischew zum genauen Gegenteil zu veranlassen.

Maximow überredete den schwerkranken Mann, nach Hause zu gehen.

Kuibischew verließ das Büro. Er war totenblaß und konnte sich kaum fortbewegen. Maximow erstattete Jenukidse sofort telephonischen Bericht. Der Führer der Rechten wies Maximow an, keinen Arzt zu verständigen.

Kuibischew gelangte mit Mühe und Not zu seiner Wohnung. Langsam, unter zunehmenden Qualen, schleppte er sich bis ins dritte Stockwerk hinauf. Das Mädchen, das ihm die Türe öffnete, erkannte auf den ersten Blick, wie es um ihn bestellt war. Sie rief sein Büro an und ersuchte um sofortigen ärztlichen Beistand. Als die Ärzte kamen, war Valerian Kuibischew bereits tot.

4. „Eine geschichtliche Notwendigkeit“

Das brutalste Verbrechen, das unter Jagodas Anleitung ausgeführt wurde, war die Ermordung Maxim Gorkis und seines Sohnes Peschkow.

Gorki war zur Zeit seiner Ermordung achtundsechzig Jahre alt. Die ganze Welt kannte und verehrte ihn nicht nur als den größten lebenden Schriftsteller Rußlands, sondern auch als einen der edelsten Humanisten. Er litt an Tuberkulose und Herzschwäche. Sein Sohn Peschkow hatte von ihm eine außerordentliche Empfänglichkeit für Erkrankungen der Atmungsorgane geerbt. Sowohl Gorki als auch sein Sohn waren bei Dr. Lewin in Behandlung.

„Gorki steht der obersten Führung sehr nahe“, erklärte Jagoda dem Arzt. „Er ist ein treuer Anhänger der Politik, die derzeit in unserem Lande befolgt wird, ein ergebener Freund Stalins, ein Mann, der niemals unseren Weg gehen wird. Andererseits wissen Sie, welches Ansehen Gorki nicht nur in Rußland, sondern auch jenseits der Grenzen genießt. Sie wissen, wie stark sein Einfluß ist, welchen Schaden eine Äußerung von ihm unserer Bewegung zufügen kann. Sie dürfen uns Ihre Hilfe nicht versagen - der Lohn wird sich einstellen, sobald die neue Regierung am Ruder ist.“

Als Jagoda Dr. Lewins Bestürzung bemerkte, fuhr er fort: „Es liegt gar keine Ursache zur Aufregung vor. Sie müssen doch begreifen, daß es sich um etwas Unvermeidliches handelt. Das ist eben ein historischer Augenblick, eine geschichtliche Notwendigkeit, eine Phase unserer Revolution, die wir durchmachen müssen. Sie werden sie gemeinsam mit uns durchmachen, Sie werden Zeuge dieses historischen Geschehens werden - und Sie müssen uns mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen.“[61]

Peschkow wurde vor seinem Vater ermordet. Dr. Lewin äußerte sich später:

„Sein Organismus bot drei Angriffspunkte: das bei ihm ungewöhnlich leicht erregbare System der Herzgefäße, die von seinem Vater nicht in Form einer Tuberkulose, sondern als besondere Anfälligkeit ererbte Schwäche der Atmungsorgane und schließlich das vegetative Nervensystem. Schon ein kleines Quantum Wein hatte eine deutliche Wirkung auf seinen Organismus; trotzdem pflegte er Wein in großen Mengen zu trinken.“

Dr. Lewin nützte diese Schwächen systematisch aus. Mitte April 1934 zog sich Peschkow eine starke Erkältung zu, aus der sich eine kruppöse Lungenentzündung entwickelte. Jagoda tobte, als in Pesehkows Zustand eine Besserung einzutreten schien. „Verdammt noch einmal“, rief er aus. „Ihr seid imstande, gesunde Leute durch eure Behandlung umzubringen und mit einem Kranken könnt ihr nicht fertig werden!“

Aber schließlich führten Dr. Lewins Bemühungen doch zu dem gewünschten Erfolg. Er selbst berichtete später:

„Der Patient war außerordentlich geschwächt; das Herz befand sich in einem elenden Zustand; das Nervensystem spielt bekanntlich bei Infektionskrankheiten eine wichtige Rolle. Er war vollkommen erschöpft, die Krankheit nahm einen ungewöhnlich schweren Verlauf. …

Der Kräfteverfall wurde durch die Ausschaltung aller herzstärkenden Medikamente beschleunigt. Es wurden sogar statt dessen Arzneien verabreicht, die das Herz schwächen. Am 11. Mai starb der Patient an Lungenentzündung.“

Der Tod Maxim Gorkis wurde durch ähnliche Methoden herbeigeführt. Die zahlreichen Reisen, die Gorki im Laufe des Jahres 1935 von Moskau und Dr. Lewin entfernten, bedeuteten nur einen Aufschub. Im Frühjahr 1936 bot sich Dr. Lewin die lang erwartete Gelegenheit. Gorki erkrankte in Moskau an einer schweren Grippe. Dr. Lewin führte eine künstliche Verschlechterung herbei, die Krankheit entwickelte sich ebenso wie bei Peschkow zu einer kruppösen Lungenentzündung. Auch diesmal ermordete Dr. Lewin seinen Patienten:

„Die im Falle Alexei Maximowitsch Gorkis angewandte Taktik bestand in der Verwendung von Medikamenten, die bei einer solchen Erkrankung im allgemeinen indiziert sind und deren Verabreichung daher weder Zweifel noch Verdacht erregen konnte. Zu den Mitteln, die der Anregung der Herztätigkeit dienen, gehören Kampfer, Koffein, Cardiazol und Digalen. Wir haben das Recht, diese Medikamente bei bestimmten Herzkrankheiten zu gebrauchen. Aber im vorliegenden Fall wurden enorme Dosen verabreicht. Der Patient erhielt beispielsweise im Laufe von 24 Stunden vierzig Kampfer-Injektionen. Diese Dosis war für ihn zu stark … Dazu kamen zwei Digalen-, vier Koffein- und zwei Strychnininjektionen.“ Der große sowjetische Schriftsteller starb am 18. Juni 1936.


ANMERKUNGEN

  1. Am 23. Dezember 1943 machte Dr. Henry E. Sigerist, Professor für Geschichte der Medizin an der John-Hopkins-Universitat, der in Amerika als hervorragende Autorität auf diesem Gebiet gilt, den Verfassern folgende Mitteilungen über Dr. Ignati N. Kasakow: „Ich verbrachte im Jahr 1935 einen ganzen Tag in der Klinik Dr. Kasakows. Er war ein hochgewachsener Mann mit wilder Mähne und glich mehr einem Künstler als einem Gelehrten. Er machte den Eindruck eines Opernsängers. Wenn man mit ihm sprach, hatte man das Gefühl, er müsse entweder ein Genie oder ein Betrüger sein. Er behauptete, eine neue Behandlungsmethode entdeckt zu haben, die er Lysatotherapie nannte. Er verweigerte jedoch jede Auskunft über die Herstellung der Lysate, mit denen er die verschiedensten Krankheiten behandelte. Er begründete diese Weigerung damit, daß seine Methode, die noch nicht vollständig erprobt sei, durch unvorsichtige oder gedankenlose Anwendung diskreditiert werden könnte. Die sowjetischen Gesundheitsbehörden nahmen eine sehr großzügige Haltung ein und stellten ihm Kliniken und Laboratorien für die Erprobung und Weiterentwicklung seiner Methode zur Verfügung.

    Professor Kasakow erwartete meinen Besuch. Er hatte für diesen Tag eine große Anzahl ehemaliger Patienten zu Demonstrationszwecken eingeladen. Es war ein regelrechter Zirkus. Der Eindruck, den ich gewann, war sehr ungünstig. Ich hatte auch in anderen Ländern Quacksalber gesehen, die Wunderkuren durchführten … Einige Jahre später stellte sich heraus, daß die Methode nichts taugte und daß Dr. Kasakow nicht nur ein Scharlatan, sondern auch ein Verbrecher war.“

  2. Gorki wurde trotz seines Alters von den Trotzkisten gehaßt und gefürchtet. Der trotzkistische Kurier Sergei Bessonow berichtete, daß Trotzki ihm gegenüber bereits im Juli 1934 geäußert hatte: „Gorki steht mit Stalin auf sehr gutem Fuß. Er trägt in hohem Maße dazu bei, die öffentliche Meinung aller demokratischen Länder, insbesondere Westeuropas, für die UdSSR zu gewinnen … Der Abfall eines großen Teiles unserer früheren intellektuellen Anhänger ist auf den Einfluß Gorkis zurückzuführen. Daraus ziehe ich den Schluß, daß Gorki aus dem Weg geräumt werden muß. Geben Sie diese Anweisung in sehr bestimmter Form an Pjatakow weiter; Gorki muß um jeden Preis physisch vernichtet werden.“

    Die russischen Emigranten und Terroristen, die mit den Nazis zusammenarbeiteten, hatten Gorkis Namen ebenfalls auf die Liste der sowjetischen Führer gesetzt, die sie zu ermorden beabsichtigten.

    Vor dem Mord erklärte Jagoda einem der Verschwörer, daß Pesehkows Tod ein „schwerer Schlag“ für Gorki sei und einen „harmlosen alten Mann“ aus ihn machen würde.

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